Tote Maedchen luegen nicht
Es ist vorbei.«
»Aber es muss etwas getan werden, Hannah. Etwas in deinem Leben muss sich ändern.«
»Ich weiß, aber wie soll das gehen? Wenn Sie mir konkrete Wege aufzeigen könnten...«
»Also, wenn du keine Anzeige erstatten willst, wenn du nicht einmal weißt, ob das möglich wäre, dann bleiben eigentlich nur zwei Möglichkeiten.«
»Zwei Möglichkeiten? Welche?«
Sie klingt hoffnungsvoll. Sie setzt zu viel Hoffnung in seine Antworten.
»Eine Möglichkeit besteht darin, ihn mit dem Vorfall zu konfrontieren. Wir können ihn zu mir bitten, um darüber zu reden. Ihr könntet beide zu mir kommen, damit...«
»Und die andere Möglichkeit?«
»Ich will die Sache nicht herunterspielen, Hannah, aber es besteht natürlich auch die Möglichkeit, darüber hinwegzusehen.«
»Sie meinen, gar nichts zu unternehmen?«
Ich umklammere die Stäbe und kneife die Augen zusammen.
»Das ist immerhin eine Möglichkeit und wir sprechen ja über Möglichkeiten. Denn schau, irgendwas ist vorgefallen, und ich glaube dir, Hannah. Aber wenn du keine Anzeige erheben und ihn auch nicht in anderer Form damit konfrontieren willst, dann musst du dich mit der Möglichkeit auseinandersetzen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.«
Und wenn das nie und nimmer infrage kommt, was dann?
»Die Sache auf sich beruhen lassen?«
»Geht er in deine Klasse, Hannah?«
»Nein, er geht in die letzte Jahrgangsstufe.«
»Dann wird er nächstes Jahr nicht mehr auf der Schule sein.«
»Sie meinen, ich soll mich einfach... damit abfinden?«
Das ist keine Frage, Mr Porter. Fassen Sie es nicht als Frage auf. Sie denkt nur laut. Wie soll sie sich jemals damit abfinden? Sagen Sie ihr, dass Sie ihr helfen werden!
Ich höre ein Rascheln.
»Danke, Mr Porter.«
Nein!
»Warte, Hannah. Du kannst gerne noch bleiben.«
Durch die Gitterstäbe, über die Bäume hinweg, stoße ich einen Schrei aus. »Nein!«
»Ich glaube, das reicht.«
Lassen Sie Hannah nicht gehen!
»Ich habe die Antwort, die ich wollte.«
»Ich glaube, es gibt noch mehr, worüber wir sprechen sollten, Hannah.«
»Nein, nein, ist schon gut. Ich muss einfach darüber hinwegkommen.«
»Man muss ja nicht resignieren, Hannah. Aber manchmal ist es gut, mit einer Sache abzuschließen.«
Lassen Sie nicht zu, dass sie den Raum verlässt!
»Ja, natürlich. Sie haben recht.«
»Warum hast du’s denn so eilig, Hannah?«
»Weil ich damit abschließen will, Mr Porter. Wenn ich die Sache nicht ändern kann, dann schließe ich lieber damit ab, nicht wahr?«
»Wie meinst du das jetzt, Hannah?«
»Ich rede von meinem Leben, Mr Porter.«
Eine Tür geht auf.
»Hannah, warte!«
Die Tür schließt sich. Dann höre ich wieder den Klettverschluss.
Schritte, die sich beschleunigen.
Ich gehe den Flur hinunter.
Sie spricht mit klarer, lauter Stimme.
Seine Tür bleibt geschlossen.
Pause.
Er kommt mir nicht hinterher.
Ich presse mein Gesicht gegen die Gitterstäbe. Sie fühlen sich an wie ein Schraubstock, der meinen Schädel einzwängt.
Er hat mich gehen lassen.
Es pocht hinter meiner Augenbraue. Doch ich fasse die Stelle nicht an oder reibe daran. Ich lasse es einfach geschehen.
Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt, doch niemand springt mir zur Seite, um mich aufzuhalten.
Wer sollte das noch sein, Hannah? Deine Eltern? Ich? Mir gegenüber hast du dich nicht so klar ausgedrückt.
Manche von euch haben Anteil genommen... aber nicht genug. Das war es, was ich herausfinden musste.
Aber ich wusste doch nicht, was du alles durchmachst, Hannah!
Jetzt weiß ich Bescheid.
Die Schritte werden immer schneller.
Es tut mir leid.
Klick. Ende der Aufnahme.
Das Gesicht immer noch gegen die Stäbe gepresst, breche ich in Tränen aus. Ich weiß, dass jeder mich hören kann, der in diesem Moment durch den Park geht. Aber das ist mir egal, weil ich nicht glauben kann, dass ich gerade Hannahs letzten Worten gelauscht habe.
»Es tut mir leid.« Das waren ihre Worte. Und wann immer ich sie in Zukunft höre, werde ich an sie denken.
Doch einigen von uns werden sie nicht über die Lippen kommen. Einige werden ihr nicht verzeihen, dass sie sich umgebracht und anderen die Schuld daran gegeben hat.
Ich hätte ihr geholfen, wenn sie es zugelassen hätte. Ich hätte ihr geholfen, weil ich wollte, dass sie lebt.
Der Walkman vibriert in meiner Tasche, als das Ende der Kassette erreicht ist.
KASSETTE 7: SEITE B
Das Band wechselt selbstständig die Laufrichtung und setzt sich wieder in
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