Tote Mädchen
würde auch ich sterben, das wusste ich. Ich lebte in der Leere ihres Herzens, völlig ihrem Zauber verfallen.
»Du könntest es so tun«, sagte sie mit ihrem Kleinmädchenlispeln, »wie es dir am besten gefällt. Ich kaufe dir ein Skalpell. Wie das, das du in England hattest. Du könntest ...«
Sie befand sich in meinem Kopf; sah mich unvermittelt an und runzelte die Stirn.
»Warum?«
»Ich kann das einfach nicht.«
»Junkie!« Sie grinste höhnisch. »Was ist los ‒ hast du Angst? Du wirst eh nicht viel länger leben als ich.« Ich steckte ihr die Zigarette wieder in den Mund, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Diese Sache mit Kito«, sagte ich. »Warum versuchen wir nicht, in einer der anderen Pornokratien Hilfe zu bekommen: Cowboy, Patpong oder Suriwongse? Die haben auch Nanotechniker auf ihren Gehaltslisten.«
»Iggy, manchmal bist du wie ein kleines Kind. Ich habe dort überall Leute umgebracht. Das können wir nicht riskieren!«
»Aber du willst es riskieren, den Nana Plaza zu betreten? Kito hat dich nie gemocht, Primavera, und jetzt mag sie dich noch weniger.«
»Kito wird uns helfen. Ich bin mir sicher.«
»Wie das?«
»Ganz einfach!« Sie schnippte mit den Fingern. »Wir erzählen ihr von Titania.«
Ich griff nach der Fernbedienung. »Davon will ich nichts mehr hören.« Ich deaktivierte den Einkaufskanal und stürzte mich in das Phosphormeer, surfte von World News (etwas über eine Hungersnot in Afrika) zum neusten Gespensterfilm, Phi Gaseu 26; von einer interaktiven Gameshow (gewinnen Sie ihren eigenen Traumgestalter) zu einem frankophonen Sender namens Alliance Française (auf der ganzen Welt wurde gehobenen Ansprüchen noch immer auf Französisch Ausdruck verliehen, obwohl die Modehauptstadt der Welt im Niedergang begriffen war). Auf Alliance lief Europe Express , ein farbsynchronisiertes Stück Scheiße aus grauer Vorzeit. Aber was war das? Irgendein halbseidener Typ fesselte eine Frau an ein Bett. Ich stellte lauter.
Primavera riss mir die Fernbedienung aus der Hand und schaltete aus. »Titania hätte bestimmt nichts dagegen.«
O Primavera, Primavera, Primavera! Glaubst du wirklich, ich hätte etwas dagegen? Deine verrückte Porzellankönigin war mir völlig gleichgültig. Aber sie bedeutete dir etwas! Weil sie eine Vision hatte. Weil sie Dinge gesagt hatte, die Wunder wirkten ‒ seither trägst du den Kopf wieder stolz erhoben. Wer Titania verriet, verriet auch dich!
»Was meinst du denn, was der Grund für diese ganze Ordure war?«, sagte ich. »Die RF ist Titania auf der Spur. Sie wollen wissen, wie es uns gelungen ist zu fliehen.« Primavera rammte ihre Faust in die Matratze. »Wir verraten niemandem etwas von Titania. Sie hat uns das Leben gerettet. Ohne sie wärst du auf dem Seziertisch gelandet.«
»Das wusste ich nicht«, erwiderte sie. »Warum hast du mir das nicht erzählt? Ich wollte Kito nur erklären, dass nicht sie die Puppenplage ausgelöst hat. Damit haben ihr die Amerikaner Angst eingejagt, verstehst du? Sie haben sie erpresst. Und wir kennen die Wahrheit.«
»Was hat denn Kito mit der Puppenplage zu tun?«
Sie keuchte laut auf und rannte ins Badezimmer. Ich folgte ihr ‒ sie kniete vor der Kloschüssel und erbrach Blut.
»Keine Sorge«, sagte sie. »Das ist deins. Aber irgendwas stimmt nicht. In mir drin.« Ich half ihr auf die Füße und musste sie fast zurück ins Schlafzimmer tragen.
»Mach die Augen zu«, sagte ich. »Schlaf ein wenig.«
»Nein!« Sie taumelte zur Frisierkommode. »Ich muss Kito treffen. Sie muss mir helfen! Ich werde ihr nicht viel erzählen. Ich werde Titania nicht verraten.« Sie fuhr herum ‒ offenbar waren meine Gedanken gut zu hören. »Du bleibst hier. Menschen können solche ... solche Hasenfüße sein.«
»Komm, ich bring dich in eine Klinik.«
»Sprich in meiner Gegenwart nicht das Wort ›Klinik‹ aus!«
»Ich dachte nur ...«
»Sei nicht so eine Memme!«
Sie holte eine Spritze aus einer Schublade und füllte sie mit Virgin Martyr . Spritze und Parfum ‒ in die schwarze Flasche war das Bildnis eines gekreuzigten Mädchens eingraviert ‒ zitterten in ihren Händen wie Zepter und Reichsapfel einer Königin der Düfte, die unter Delirium tremens leidet. Sie spritzte sich die Flüssigkeit und verdrehte die Augen, bis sie weiß waren wie hartgekochte Eier.
»Ahh«, seufzte sie, »riecht das gut.« Als der Kick nachließ, machte sie sich daran, ihr Haar zu kämmen. »Wenn Kito nicht mitmacht«, sagte sie, »dann töte ich
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