Tote Mädchen
Leidenschaft, der strenge Duft von Sex hing in der Luft, und der Gestank von tausend Bars mischte sich mit dem von tausend Fahrzeugen. Die Rushhour von Bangkok erreichte ihren ersten Höhepunkt. Meine Kleider fingen an zu dampfen; Primavera verbarg ihr Gesicht vor der Sonne. Die Stadt begann wie jeden Tag vor Smog zu brodeln ‒ noch hatte er nicht den Siedepunkt erreicht. Aber er umspielte bereits meine Waden wie ein Spezialeffekt aus einem schlechten Horrorfilm. Um das Europäische Parlament zu besänftigen, hatte die Regierung Thailands ökologische Nanoware verboten. Für die internationalen Beziehungen war das nur von Vorteil: Es beschwichtigte einige der Ängste des Westens (in Europa war nach dem Ausbruch der Puppenplage alle Nanoware geächtet worden); es schadete nur den Armen (die Reichen des Königreichs lebten in Hochhäusern mit klimatisierten Wohnungen); und die gewaltige Untergrundnanoindustrie, auf der ein Großteil des Reichtums von Bangkok beruhte, blieb davon unberührt.
Die Soi Cowboy, eine von den Triaden kontrollierte Pornokratie und schärfster Konkurrent des Nana Plaza ‒ Primavera hatte letztes Jahr ihren Totschläger Terminal Wipes umgelegt ‒ blieb in der schwarzen Wolke unserer Abgase zurück. An einer Fußgängerbrücke verkündete ein Transparent: Willkommen in Fun City . Kriege gab es keine mehr. Nur größere und kleinere Scharmützel um die Frage, wer das Revier der künstlichen Realität beherrschte. Spaß war eine Währung, die auf der ganzen Welt galt. Primavera hatte dafür getötet. Wer hätte das nicht? So ist das Leben. (So ist der Tod.) Unterhaltung ist alles.
Ich bog in eine Gasse, wobei ich nur knapp einem Toyota Duck auswich, und dann in ein Stundenhotel namens Lucky . Die Parkwächter sahen uns näher kommen und zogen die Vorhänge beiseite, die einen von mehreren Stellplätzen abtrennte; wir fuhren hinein, und die Vorhänge wurden hinter uns zugezogen. Wir hielten an einem kleinen Kai; in einer Ecke befand sich die Tür zu unserem Zimmer. Ich fütterte einen Kassenautomaten mit einigen Baht. In einem Stundenhotel, einem Unterschlupf für Ehebrecher, wurde Wert auf Diskretion und Anonymität gelegt, und damit war es, zumindest für einige Zeit, das ideale Versteck für uns. Wir gingen von Bord.
5
Shoppen und vögeln
Primavera schälte sich aus Strümpfen und Unterwäsche und sprang unter die Dusche; als sie wieder zum Vorschein kam, nahm sie sich ein paar Baht aus meinem Geldgürtel, wandte sich dem Bildschirm zu und machte sich ans Shoppen. »Ich bestell für dich mit«, sagte sie, kurz bevor ich im Badezimmer verschwand. Der Gestank des Khlong war unerträglich geworden.
Der Eilservice von Daimaru brachte unsere Sachen, während ich noch unter der Dusche stand. Als ich ins Schlafzimmer zurückkehrte, war der Boden mit zahlreichen bonbonfarbenen Kartons und haufenweise Verpackungsmaterial bedeckt, und der lebende Inhalt der Kartons war auf den Teppich übergeschwappt. Die Kleider, deren Nerven blank lagen, zitterten ‒ fast schienen sie uns anzuflehen, sie anzuziehen, damit ihr Elend ein Ende hätte. Ich versetzte ihnen einen Tritt.
»Ist das nicht niedlich?«, fragte Primavera. »Was meinst du?« Sie hielt sich ein pinkfarbenes Top und ein dazu passendes Röckchen vor ihre Blöße und betrachtete sich im Spiegel.
»Ich glaube, ich bin bankrott.«
»Als ob du jemals eine Bank betreten hättest! Die würden dich eh nicht reinlassen. Außerdem ist da noch Leben in deiner Karte. Gerade noch so. Ihr Jungs macht euch immer solche Sorgen!«
Sie ließ die Kleider fallen; für einen Moment schmiegten sie sich an ihre Füße; im Zimmer wurde es kalt. Wieder stand ich unter Drogen ‒ allerdings ohne etwas getrunken zu haben. Primavera allein genügte. Ein Psi-Phänomen vielleicht. Puppenpheromone. Ihr Zauber wirkte auch von fern, wie ein Ultraschallpfiff, und meine Hormone reagierten mit einem Wuff ! Diesem Sirenengesang hatte ich nichts entgegenzusetzen.
War sie schön? Nein; Puppen waren eher hübsch, wenn auch ein wenig überreif ‒ der zuckersüße Fluch, der sie alle traf. Schönheit hat Seele. Schönheit hat Ausstrahlung. Eine Puppe dagegen ist oberflächlich und glatt. Kleider, Make-up und Verhaltensmerkmale bilden zusammen eine Identität, die ganz Attitüde ist, Nuance, Andeutung. Eine Puppe hat keine Psychologie, kein eigenes Ich, keine metaphysische Tiefe. Sie ist ganz äußerer Schein, die harte, spröde Summe ihrer Teile. Sie ist das Phantom im Spiegel,
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