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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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das Gespenst, das sich, wenn wir es berühren wollen, als wabernde Luft erweist. Sie ist Form ohne Substanz, ein Fraktal, das in die Unendlichkeit entschwindet, ein Spiegelbild ohne Original und ohne Ende.
    Sie ist die Gestalt gewordene Versuchung.
    Primaveras Augen trübten sich. »Ich kann deine Gedanken lesen, Iggy. Hast du schon immer so empfunden? Wirklich? Aber es ist die Wahrheit: Ich habe keine Seele. Ich bin eine Lilim, eine Tochter von Lilith.« Sie setzte sich, den Rücken mir zugewandt, auf das Bett und hantierte mit Lippenstift, Rouge und Lidschatten herum. Lange, in orientalischem Stil manikürte Fingernägel klirrten wie die Schwerter winziger Samurai, während sie ihre Maske auftrug. Innerhalb von kürzester Zeit war ihr Gesicht wieder frisch lackiert, so hübsch und unantastbar wie eine Wachsfigur. »Bei mir«, sagte sie, »gibt es keinen Unterschied zwischen Schein und Sein.«
    »Schau mich an«, sagte ich.
    Wie ein trauriger Clown hatte sie versucht, sich unter einer Sturzflut von Künstlichkeit zu ertränken. Ihre Augen waren von einer pfefferminzgrünen Korona umgeben, und ihre granatapfelroten Lippen passten farblich zu dem Rouge, das ihre runden Wangenknochen betonte. Ihre Haut war gebleicht, und ihre Kriegsverletzung ‒ die bläuliche Tapferkeitsmedaille auf ihrer Stirn ‒ tarnte eine Puderschicht, die nahtlos in ihren kränklichen Teint überging.
    »Primavera, ich ...«
    »Wer will schon ein Mensch sein? Was ist daran so toll? Ich bin froh, dass ich eine Puppe bin. Mir ist egal, ob ich sterbe. Ich glaube an alles, was Titania gesagt hat.«
    Ich setzte mich neben sie. »Es tut mir leid, dass ich weggelaufen bin«, sagte ich. »Aber ich möchte einfach nicht so sein wie sie. Wie die Reinheitsfront. Und ‒ wie all die anderen.« Ich starrte zu Boden. »Manchmal schäme ich mich dafür, ein Mensch zu sein. Für das, was wir tun. Wie wir empfinden. Ich möchte dich lieben, Primavera. Ich wollte dich schon immer lieben.«
    »Aber wir sind einfach zu verschieden, oder?«, fragte sie. »Ich weiß, Iggy, mir geht es genauso. Wir wollen lieben, aber wir lieben uns selbst mehr ‒ das Blut und die Schmerzen, die Demütigungen. All die Tode, groß und klein.«
    »Ich bin nicht vor dir weggelaufen«, sagte ich und legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. »Wenn ich nur ...« Mir stockte die Stimme. »Weißt du nicht mehr? In Calais. Weißt du nicht mehr, was du da gesagt hast? Was du fast gesagt hast ...«
    Sie wirkte plötzlich sehr verlegen, was völlig untypisch für sie war. »Leck mich«, sagte sie leise, flehentlich.
    »Ich glaube auch an Titania. Ich bin auf deiner Seite. Ich mag die Menschen nicht, ich mag ...«
    Primavera legte mir einen Finger auf die Lippen und rümpfte die Nase ‒ es war ihr zuwider, sich über etwas nicht schlüssig zu sein. »Du hast recht«, sagte sie. »Menschen stinken.« Sie griff nach dem Handtuch, das ich als Sarong missbraucht hatte. »Manchmal, Iggy, laberst du nur Scheiße. Ich weiß, dass ich nicht lieben kann. Ich bin eine Puppe! Aber du bist ein Puppenjunkie ‒ du kannst genauso wenig lieben.« Sie riss mir das Handtuch von der Hüfte. »Du denkst vielleicht, dass du Puppen magst. Aber ich weiß, was dir wirklich gefällt.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete den Bildschirm aus, der noch immer die Bestellseiten gezeigt hatte.
    »Lass uns spielen«, sagte sie und stand auf. Sie watete durch ihre neuen Kleider und stieß bald auf unsere wichtigste Requisite. Ich fesselte ihr die Hände auf den Rücken; sie drehte sich um und schmiegte sich an mich.
    »Du Schwein«, flüsterte sie. »Scheißkerl! Heuchler! Schnösel! Du hältst dich für etwas Besseres als die anderen, was? Für etwas Besseres als die Reinheitspartei. Als die Medicine Heads. Aber ich weiß, was dir gefällt. O ja, Iggy, ich weiß es ...«
    Ihre Zähne kitzelten mich am Ohr, und ich spürte ihren schweren Pulsschlag an meinem Herzen. Ihr Plastikfleisch wurde warm und klebrig, und die Illusion weicher Lüsternheit wurde nur von ihrem Brustkorb Lügen gestraft, der so hart war wie hochgezüchteter Stahl und sich so fest an meinen Solarplexus presste, dass er einen schwarzblauen Abdruck hinterließ. Atemlos strich ich ihr übers Haar, über die Krenelierung ihrer Wirbelsäule, legte ihr die Hand aufs Kreuzbein ‒ die Öffnung dort war unter einem kleinen Hautlappen verborgen ‒ und rieb mit den Knöcheln darüber. Sie wand sich vor Abscheu.
    »Dann sag mir doch«, flüsterte ich, »was

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