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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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blutlosen Wangen; das elfenhafte Kinn und die spitzen Ohren; die niedliche Nase einer Disney-Prinzessin. Dasselbe galt auch (denn sie war eine Puppe, und Puppen sind so) für ihre Sanftmut ‒ sie war maßlos zuvorkommend.
    Aber all das sollte sich ändern.
    Im Zimmer meines Vaters herrschte ewiges Zwielicht; die Vorhänge waren zugezogen, und es roch nach Büchern und Kampfer. Die Bücher waren überall: Bände über Maschinenbau und Kunstgeschichte; Pergamentausgaben von Schriftstellern der »Zweiten Dekadenz« aus den 1990ern; dünne Hefte über Spielzeugfertigung aus dem Nürnberg des 17. Jahrhunderts; und Raritäten wie die Mechanische Magie von Bischof Wilkins. Auch Gemälde gab es hier, darunter Originale von Künstlern des 20. Jahrhunderts wie Hans Bellmer, Balthus und Leonor Fini. (Mein Lieblingsbild stammte von dem Briten Barry Burman. Es trug den Titel »Judith« und zeigte ein pubertierendes Mädchen, das Lederhandschuhe trug und den abgeschlagenen Kopf des Holofernes hochhielt.) Beherrscht wurde das Zimmer jedoch ‒ sah man von dem großen Bett ab, das dem schwindsüchtigen Körper meines Vaters Hohn sprach ‒ von den Automaten. Sie lauerten in den Schatten, ihre kinetische Latenz die sprungbereiter Raubtiere. Hier konnten Meisterwerke aus dem Zeitalter der Vernunft bewundert werden: Der Schreiber und die Organistin von Pierre Jaquet-Droz, die Vater aus den Schatzkammern des insolventen Musée d’Art et d’Histoire in Neuchâtel erworben hatte; die singenden Vögel von Jean Frederic Leschot; sowie ein Zauberer, ein Trapezkünstler, Affen, Clowns und Akrobaten von den Brüdern Maillardet. Aus einer späteren Zeit besaß er einen Autoperipatetikos von Enoch Rice Morrison, eine Figur mit einem Kopf aus Biskuitporzellan; mehrere elegant gekleidete Mädchen von Gaston Decamps; eine Musikautomatenpuppe von Gustav Vichy; und (ein Geschöpf der Nacht!) eine Steiner-Puppe mit einem Mund voller Haifischzähne, die ihr den Spitznamen »Die Vampirpuppe« eingebracht hatten.
    »Titania geht einkaufen. Darf ich sie begleiten?« Vater griff nach seiner Brille und blinzelte mich an.
    »Mrs. Krepelkova macht sich Sorgen um dich und Titania.« Ich schluckte und vergrub meine Hände in den Hosentaschen. Er kicherte heiser. »Sie findet, dass ich zu liberal bin.« Stille. Das Tablett des Invaliden war mit Buttermuffins überhäuft; die Vorhänge schaukelten sanft in der Sommerbrise. »Peter, was möchtest du werden, wenn du groß bist?«
    »Ein Automatenbauer, so wie du. Ein berühmter Automatenbauer!«
    »Nein. Sag das nicht! Nicht mehr. Die Zeiten der Spielzeugfabrikanten sind vorbei! Die Zukunft gehört Leuten wie Mrs. Krepelkova.«
    »Aber Titania ist keine Lilim«, sagte ich. Mein Vater musterte mich bestürzt.
    »Was für Geschichten hat Mrs. Krepelkova dir da erzählt? Geschichten von Hexen und Sukkuben und Golems? Meiner Treu, der Kopf dieser Frau ist voller Unsinn! Sie liest zu viele schlechte Zeitungen und hört auf läppische Politiker. Peter, es gibt keine Lilim! Du bist ein intelligenter Junge: Du musst nicht alles glauben, was du hörst.« Er schnaufte wie eine löchrige Ziehharmonika. »Mrs. Krepelkova ist eine brave Frau. Sie hat ein gutes Herz. Aber wir müssen vorsichtig sein. Wenn du das nächste Mal aus den Ferien auf dem Land nach Hause kommst, bringst du jemanden mit. Ich weiß, dass du Titania magst, aber du brauchst auch andere Freunde! Um ihretwillen.«
    »Als ich klein war, hatten wir jede Menge Puppen. Damals hat das niemanden gekümmert.«
    »Das waren noch andere Zeiten«, erwiderte mein Vater. Unvermittelt wurde ich von Erinnerungen heimgesucht: die reichen Gönner meines Vaters, die sich in unserem Haus die Klinke in die Hand gaben; die phantastischen Automaten, die uns bei Tisch bedienten; meine Mutter, die nach dem Abendessen über einen Witz lachte, ihre Wangen schon damals von mutierten Tuberkulosebazillen gezeichnet, dem Fluch jener Belle Époque in Europa. »Der tückische Wurm«, seufzte Vater, nahm die Brille ab und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. »Lass uns lieber an glücklichere Zeiten denken. Zum Beispiel an den Tag, als ich vom Comité Colbert entdeckt wurde ...« Seine Augenlider zuckten, während er sich mühte wach zu bleiben. »Ich hatte gerade meinen Abschluss am Fashion Institute of Technology gemacht. Ihnen gefiel meine englische Hauteur , die Stutzerhaftigkeit, die ich mir zugelegt hatte, seit ich als Junge die Autoren der 90er-Jahre gelesen hatte. Frankreich war

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