Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
Vom Netzwerk:
ein nacktes Mädchen; die Steiner-Puppe stürzte zu Boden, krümmte sich und kreischte; jemand ‒ etwas ‒ spielte die Marseillaise ; Vögel stimmten ihr Lied an. Bald tobten die ganzen nutzlosen Spielsachen um das Bett meines Vaters herum wie ein Pöbelhaufen vor den Toren des Palasts.
    »Ihre Zeit ist gekommen«, sagte Vater. »Ja, du kannst gehen. Dieses Mal noch.«
    Der Bentley bahnte sich seinen Weg durch die Seitensträßchen von Mayfair. Titania fuhr. Sie spähte über das Lenkrad und bog mit der Unbekümmertheit einer Unsterblichen in die Bond Street ein. Mit dreizehn (Titania war schon immer dreizehn gewesen) schienen die Fähigkeiten ihrer motorischen Neuronen denen eines Kindes zu entsprechen; und obwohl es in dieser Geisterstadt wenig wahrscheinlich war, dass wir jemanden fahrlässig töteten, hielt ich immer wieder im Rückspiegel nach Leichen und ‒ noch unwahrscheinlicher ‒ Polizisten Ausschau. Die Straße war leer (tagsüber waren die Straßen immer leer), die sich entfernenden Bilder zugenagelter Fenster hinter uns ‒ Cartier und Tiffany, Ebel und Rolex ‒ funkelnde Fassaden des Niedergangs. In den Ausstellungsräumen waren inzwischen nur noch an die Wände gesprühte Symbole der Reinheitsfront zu sehen und Graffiti, die »England für die Menschen«, »Seid stolz auf eure Sterblichkeit« und »Sperrt sie alle ein!« schrien.
    Bei Fortnum & Mason kauften wir Corned Beef und Kappes (der Laden wurde von einem ukrainischen Ehepaar geführt, das ‒ wie mein Vater ‒ dazu verurteilt war, in der Stadt zu bleiben) und begaben uns dann auf die geheime Teilstrecke unserer Tour. Unser antikes Automobil donnerte die Shaftesbury Avenue, die Holborn und die Cheapside entlang und immer tiefer in die City hinein. In der Nähe von St Paul’s sahen wir ein paar Techniker, die in Kanalschächte hinunterstiegen, um den verklemmten Nerv einer verhätschelten KI zu massieren. Sie bemerkten uns ebenfalls ‒ oder eher Titania, denn sie gestikulierten plötzlich wild und verschwanden in der Tiefe.
    »Vor was haben die Angst?«, fragte ich. »Puppen zeigen sich doch nur nachts.« Titania, so vergnügt wie ein Vogel, lachte ohne jede Ironie.
    In Whitechapel angekommen, bogen wir in die Brick Lane ein und parkten unter einem kyrillischen Schriftzug: LADA. Das Schild gehörte zu einer Lagerhalle, die, wie die verlassenen Borschtsch & Wodka-Imbissbuden ganz in der Nähe, ein Erbe jener Jahre war, als die bengalische Enklave den sowjetischen und osteuropäischen Migranten überlassen worden war. Von harter Währung angelockt, sollten sie der rückläufigen Geburtenrate im Westen entgegenwirken ‒ damals war es Mode, mit künstlichen Geschöpfen zu verkehren. Eine Zeit lang übernahmen die »Slawen« in den Augen englischer Rassisten die Rolle der »Pakis«. Allerdings nur so lange, bis die Menschen lernten, das Wort »Lilim« auszusprechen.
    Wir betraten die Lagerhalle durch eine Seitentür. Durch das Wellblechdach fiel Licht schräg auf Auspuffrohre, Motorenteile und einen Samowar. In einer Ecke, wo Rost die Falltür weggefressen hatte, durch die einst Lieferungen ins Seven Stars gebracht worden waren, stolperte das Licht, stürzte und verschwand im Abgrund. Wir stiegen die Treppe hinab; Titanias Katzenaugen leuchteten grün, während sie mich sicheren Schrittes in den dunklen Keller führte. Obwohl ich nichts sehen konnte, wusste ich, dass sich eine Vielzahl von Kerzen wie Stalagmiten in einer verwunschenen Grotte aus den Trümmern erhoben. Ich hörte, wie Titanias Hand durch die Luft fuhr; die Kerzen flammten auf und zerstreuten unsere Schatten. Zum Vorschein kamen, den Schätzen einer ägyptischen Grabstätte gleich, die uns wohlvertrauten Bierfässer und Weinregale, ein Billardtisch und mehrere Münzspielautomaten.
    An einer Wand hing das alte Kneipenschild, das wir neu bemalt hatten. Eine ganz in Scharlachrot gekleidete Frau, von der Sonne eingehüllt, den Mond unter den Füßen und mit sieben Sternen gekrönt, blickte auf uns herab. Sie hatte grüne Augen und war wunderschön.
    »Unsere Flagge«, sagte ich und salutierte vor ihr.
    »Unser Planet!«, sagte Titania. »Hier fühle ich mich sicher. Zumindest in deiner Gegenwart.« Sie wischte eine Spinnwebe von den Füßen Unserer Lieben Frau. »Was hat dein Vater heute Morgen zu dir gesagt?«
    »Nichts von Belang«, erwiderte ich und griff mir eine Farbdose. Ich wollte unbedingt das Thema wechseln. »Lass uns anfangen. Das hier wird unsere Welt!« Doch Titania

Weitere Kostenlose Bücher