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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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Büchern und Gemälden bedeckt, und auf einem schweren Eichentisch lagen Landkarten neben einem Astrolabium und einem Globus, als wäre dort ein General am Werk; in der Ecke spuckte ein Ticker raschelnd Papier aus. Ich befand mich in Titanias chambre ardente .
    »Ah, Peter«, sagte Titania, »hast du also unseren Gast gefunden!«
    »Er ist mein Freund«, sagte Primavera. »Mein Erster.«
    »Peter war auch mein Erster ‒ habe ich recht, Peter? Aber das war in einer anderen Zeit und in einem anderen Land. Der Erste ist immer etwas Besonderes. Nichts schmeckt jemals wieder so.«
    »Davon habe ich keine Ahnung«, sagte Primavera und wurde rot.
    Peter zog zwei Stühle heran, sein Gesicht so ausdruckslos wie im Ballsaal.
    Ich ließ mich zwischen den beiden Mädchen nieder. Ein buffet froid mit Eiscreme, Pralinen, Sahnebrötchen und Sorbet war neben ihnen angerichtet. Primavera hielt sich an die Pralinen. »Wir alt sind Sie, Euer Majestät?«, fragte ich.
    Primavera runzelte die Stirn. »Iggy, das ...«
    »Dreizehn«, sagte Titania. »Und das schon seit achtundzwanzig Jahren. Ich bin kurz nach Peters Geburt angefertigt worden. Peter und ich« ‒ ein vogelgleiches Lachen perlte ihr über die Lippen ‒ »nun ja, in gewisser Hinsicht sind wir miteinander verwandt.«
    »Aber Sie sind doch gar kein Mensch!«, sagte Primavera. »Sie wurden als Uhrwerk geboren. Sie werden nicht sterben wie wir.«
    »Wir sterben jeden Tag, wenn der Morgen graut«, sagte Titania. »Hab ich nicht recht, Peter?« Ein Schürhaken schwebte durch die Luft und stocherte im Feuer; die Flammen knisterten fast so laut, wie Titania kicherte. Schweiß rann mir den Nacken hinunter. »Aber ich habe euch nicht hierhergebracht, um über den Tod zu reden. Ich möchte euch beibringen, wie man lebt. Ich möchte allen Puppen beibringen, wie man lebt!« Sie schaute Primavera durchdringend an. »Deine Generation hat sich weiterentwickelt. Ihr seid um ein Vielfaches schädlicher als die Erstgeborenen. Diese Lilim ...« Titania glitt zu Boden, kroch zu Peter hinüber und legte ihm den Kopf in den Schoß. »Diese Lilim waren Milchgesichter! Habe ich nicht recht, Peter, mein Schatz?« Sie strich ihrem Gemahl über die Schenkel. »Blickt in das Feuer. Seht ihr die Zukunft? Alles ist dem Untergang geweiht. Wir. Die Welt. Alles. Schaut: das Nimmerland, wo sich die Rekombinanten in dunklen Gassen an denjenigen gütlich tun, die sie betört haben. Schaut: Das Nimmerland stirbt, seine Bewohner zu ausgehungerten Rudeln von Mädchen verkümmert, deren Sterblichkeitsrate so hoch ist, dass der cordon sanitaire von London bald nur noch eine leere Hülle sein wird. Schaut: Manche Lilim sind entkommen und beanspruchen nun andere Städte für sich ‒ sie beanspruchen die ganze Welt für sich und unterrichten ihre Schwestern in einer Religion, deren lang ersehnte Apokalypse in einer Welt besteht, die den vergoldeten Automaten gehört. Schaut: Da es keine menschliche DNA mehr gibt, die sie plagiieren können, stirbt diese parasitäre Rasse, hysterisch und vom Durst in den Wahnsinn getrieben, einen ekstatischen Liebestod und verbrennt auf demselben Scheiterhaufen wie die vergessene Menschheit. Und das ist auch gut so. Es ist unsere Bestimmung. Doch schaut: Auch die Vergangenheit ist hier. Peter, erzähle ihnen von der Vergangenheit ...«
    Peter schloss die Augen. Seine Stimme wurde so leise wie das Säuseln der Asche in einem erloschenen Kamin. » Peter Gunn hatte seinen Höhepunkt erreicht. Mich überlief ein Schaudern. Titania beraubte mich meiner Zukunft als Mensch. Aber sie gab auch etwas dafür zurück. Mit ihrem Speichel strömten zehn Milliarden Mikroroboter ‒ ihre Softwareklone ‒ wie ein Schwarm Meerjungfrauen in mein Blut und meine Lymphflüssigkeit. Zehn Milliarden kleine Titanias schwammen durch mich hindurch, durch meine Harnröhre, meine Samenleiter und Hodenkanälchen, wo sie mit meiner Reproduktions-Wetware verschmolzen und meine Chromosomen mit Blaupausen toter Mädchen korrumpierten. Ich würde sie mein ganzes Leben lang mit mir herumtragen, meine Colombina, meine süße Soubrette ; meine Titania, Königin der Feen; meine Kinder würden ihre Kinder sein. Auch ich würde Puppen in die Welt setzen; wie mein Vater würde auch ich Großes leisten! Ich würde sein Werk zu Ende bringen. Ich würde eine Welt für die Chimären errichten, für die Vampire und die Sphinx; eine Welt verderbter Kindheiten; eine Welt der Puppen ...«
    »Ach ja«, sagte Titania. »So war es.

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