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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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verstieß, hinzu: »Sind Sie wirklich eine Große Schwester? Eine Original-Cartier-Puppe? Ich dachte, die wären alle zerstört worden. Und können Sie wirklich alles ‒ ich meine alles ?«
    Jo hüstelte entschuldigend. »Sie macht noch ihre Metamorphose durch, Euer Majestät.«
    »Ja«, sagte Titania, »ich verstehe.« Sie erhob sich von ihrem Thron und stieg vom Podium hinunter, ihr Kleid ein einziges Flüstern. Titania glich keiner Lilim, die ich je gesehen hatte. Ihr Haar, ein schwelendes Schwarz, und die katzenhaften Augen (die Nanotechnologen von Cartier hatten den Entwürfen der Schmuckdesignerin Jeanne Toussaint neues Leben eingehaucht) waren typisch für diese Unterart; aber ich war noch keiner Puppe begegnet, die so sehr den Geist der Künstlichkeit atmete, die ein wahrer Feind der Natur war. Sie stand vor uns, und ihr Kleid, so rot wie eine wollüstige Wunde, verstummte. Schließlich lächelte sie (ihre Zähne wirkten sonderbar stumpf) und legte Primavera eine krallenbewehrte Hand an die Wange. »Keine Sorge«, sagte sie, »bald wirst du nicht mehr wie ein Straßenköter aussehen. Komm, wir gehen in mein Arbeitszimmer. Ich möchte, dass du dir etwas anhörst. Etwas, das alle meine Gäste hören, bevor sie mir Treue schwören. Und wenn du es wünschst, werde ich dir das Geheimnis verraten. Das größte Geheimnis überhaupt ...«
    Die beiden Mädchen überquerten die Tanzfläche, Titania ein wenig steif ‒ ein unbeholfenes Schulmädchen, das in ihrem extravaganten Madame-Pompadour-Kleid ein bisschen albern aussah. »Du kannst auch mitkommen, Menschenjunge«, sagte Titania und fügte an ihren Schützling gewandt hinzu: »Jungen haben manchmal durchaus ihren Nutzen.«
    Ein Mauerblümchen, das ein Bein über die Armlehne ihres Stuhls baumeln ließ, rief: »Schickes Kleid!«
    »Danke«, erwiderte Primavera. »Von Ungaro.«
    Ein Mädchen (fünfzehn? sechzehn?), in deren absinthfarbenen Augen tollwütige Feen ertranken, versperrte mir den Weg. Das Oberteil ihres Ensembles ‒ ein fleischrotes Korsett, das aus »Skin II« gewebt war ‒ glich dem gehäuteten Rumpf einer Heldin des Marquis de Sade. »Tanz mit mir!«, sagte sie. Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel übers Kinn und dann auf ihre Brüste.
    »Ich weiß nicht, wie«, sagte ich. Gekränkt schlenderte sie davon.
    »Sexualstraftäterin«, sagte Jo. »Verrückter Automat! Titania versucht, ihrem Leben eine Bedeutung zu geben, und was macht sie? Tanzen, tanzen, tanzen! Ich sage euch ‒ diese Puppe wird bald durchbrennen ...«
    Der Mann, der neben Titania auf dem Podium gesessen hatte, ließ den Blick sichtlich gelangweilt über das Pentagramm maskierter Puppen schweifen, wie er es schon während der Audienz die ganze Zeit getan hatte. »Wer ist das?«, fragte ich Jo leise.
    »Das ist Peter. Er ist hirntot! Titania hat ihn ausgesaugt. In zehn Jahren wirst du auch so sein.« Offenbar meinte sie das nicht im Mindesten ironisch. »Wenn du dann nicht schon längst hinüber bist. Allerdings kannst du bis dahin noch eine Menge Babys zeugen. Babys, die zu Puppen werden. Und darauf kommt es schließlich an, oder?«
    Das Gedränge auf der Tanzfläche nahm zu; das hermetisch generierte Licht des Palastes zuckte grün über wächserne Gesichter; Musselin, Seide, Taft und Spitze rauschten an mir vorbei; ich wurde gestoßen, gezwickt und gekitzelt; dann zog sich die Flut der Puppen kichernd von mir zurück; Jo wurde von der Strömung davongetragen.
    Titania und Primavera verließen den Ballsaal; ich rannte ihnen nach, wobei ich über den auf Hochglanz polierten Bretterboden schlidderte.
    Der angrenzende Korridor (wir nahmen eine andere Route als auf dem Hinweg) war mit Spiegeln und Trompe-l’œils gesäumt, Scheinsäulen und Scheinperspektiven führten mich auf falsche Fährten. Während ich von Wand zu Wand schwankte, als befände ich mich an Bord eines Ozeandampfers, der gegen einen Sturm ankämpfte, verlor ich meine Beute bald aus den Augen und irrte durch identisch aussehende Vorzimmer und Salons, in denen sich nichts regte. Ich wollte gerade um Hilfe rufen, als eine Hand mich am Arm packte und durch eine Tür stieß. Ich zog die Schultern hoch, weil ich befürchtete, mit Beton oder Glas zu kollidieren, aber die Tür gab nach und entließ mich in die Dreidimensionalität.
    Titania und Primavera saßen an einem offenen Feuer (der Palast war ausgekühlt, das Feuer drückend heiß); fast versanken sie in riesigen Ledersesseln. Die vertäfelten Wände waren von

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