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Tote Mädchen

Tote Mädchen

Titel: Tote Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Calder
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setzte sich niedergeschlagen auf einen beinlosen Flipper.
    »Peter, das ist nur eine Zuflucht. Ich kann hier niemals zu Hause sein! Für die Leute werde ich immer das ›Ding aus einer anderen Welt‹ bleiben.« Sie fuhr mit einem langen roten Fingernagel über die Wand, und ich bekam eine Gänsehaut. Im Verputz blieb der Umriss eines Herzens zurück. »Und sie haben recht ‒ ich bin ein totes Mädchen. Du solltest dich wirklich nicht mit mir abgeben ...« Ein Hauch von Koketterie hatte sich in ihre Spieluhrstimme geschlichen. Links neben das Herz malte sie ein »T«, rechts ein »P«; dann rümpfte sie kurz die Nase und durchbohrte das Herz mit einem Pfeil. Schließlich lächelte sie, ohne dass sich ihre unerschütterliche Miene im Mindesten aufhellte, und ich verspürte einen Stich in der Magengrube. »Aber außer dir habe ich keine Freunde. Was würde ich ohne dich tun? Ein totes Mädchen braucht doch einen Freund!«
    Erst vor Kurzem, nachdem ich aus dem Norden zurückgekehrt war, hatte ich bemerkt, wie hübsch sie war. So zart und blass! Wegen unseres kleinen Dienstmädchens, das mir jahrelang nur eine Spielgefährtin gewesen war, wälzte ich mich die ganzen langen Sommernächte schlaflos im Bett herum.
    »Ich mag ...«, sagte ich, Mund und Hals plötzlich wie ausgetrocknet. »Ich mag tote Mädchen.« Über ihr Gesicht huschte ein Lächeln wie ein nicht zu unterdrückender Lachanfall bei einer Beerdigung. »Mach dir keine Sorgen wegen Vater. Er behauptet, es gäbe keine Lilim.«
    »Nein«, sagte sie und kicherte freudlos. »Wir Puppen glauben an nichts. Wir haben nichts. Wir tun nichts. Uns gibt es überhaupt nicht! Ich wünschte ...« Als hätte ihr jemand in barschem Tonfall einen Befehl erteilt, stellte sie wieder ihre gewohnt autistische Miene zur Schau. »Licht«, sagte sie knapp, »mehr Licht.« Die Kerzen leuchteten heller, und die Flammen wurde grün, sodass wir uns in einer Meereshöhle zu befinden schienen, im Schatten eines Baldachins aus Seetang. »Eine Puppe braucht etwas, an das sie glauben kann. Genau wie Mrs. Krepelkova. Wir brauchen ... eine Erklärung!« Eine Träne rann ihr die gläserne Wange hinunter. Ich hatte nicht gewusst, dass tote Mädchen weinen können. »Die Leute behaupten, ich sei eine Lilim. Warum sollte ich auch keine Lilim sein? Warum nicht? Wenn ihnen das doch so wichtig ist!«
    Ich kniete vor ihr nieder und vergrub meinen Kopf in ihrem Schoß. »Sag nicht so was! Auf Leute wie Mrs. Krepelkova musst du nichts geben.« Ihre Hand, weiß und unmenschlich kalt, berührte meine Stirn, rasiermesserscharfe Nägel ritzten meine Haut.
    »Ich würde dir nie etwas tun. Das weißt du doch, Peter, nicht wahr?« Sie strich mir übers Haar. »Erinnerst du dich noch, vor Jahren, als dein Vater mich dekantiert und mit nach Hause gebracht hat? Wie schön deine Mutter war! Ich habe sie sehr gemocht. Wenn das Leben nur wieder so sein könnte!«
    »Das wird es. Glaub mir, das bekommen wir hin. Wir werden einen Weg finden.« Ich hielt ihre Hand und blickte hoch in ihr tränenverschmiertes Gesicht, dessen Perfektion der Makel des Inhumanen anhaftete. Unter dem dünnen Baumwollkleid spürte ich ihre kalten Oberschenkel und die Kugelgelenke ihrer Knie.
    »Mir ist es egal«, flüsterte ich, »ob du eine Lilim bist oder nicht.« In einem plötzlichen Luftzug flackerten die Kerzen, und der Raum verdüsterte sich. »Wir könnten ... du könntest ...« Ein Speichelfaden hing an ihren liebreizenden vollen Lippen. »... dafür sorgen, dass alles wieder so wird wie früher ... eine Welt der Puppen ...« Aus dem Luftzug wurde ein Wind. Ihre Lippen öffneten sich, und ihre Augen wurden riesig. Spucke troff ihr aufs Kinn. Der Wind blies durch mich hindurch, ein himmlischer Mistral, der mich erstarren ließ. Im Bann ihrer Schönheit grub ich meine Hände in ihr Kleid, bis meine Knöchel ganz weiß waren. Ihr schwarzes, volles Haar umpeitschte ihr Gesicht, das jetzt dem eines unheilvollen Engels glich; ihre Augen leuchteten wie grünes Eis. Der Wind heulte, und das Eis war in mir.
    »Nein!«, schrie sie da, »ich will nicht, ich will nicht!« Der Wind flaute ab und stieß einen letzten, verzweifelten Seufzer aus. Ihre Zunge zuckte echsengleich über ihre Lippen und leckte weißen Schaum.
    Ich stöhnte.
    »Das darfst du mich nicht noch einmal bitten. Führe mich nicht in Versuchung!« Sie presste sich die Hände auf den Bauch. »Ich spüre es hier drin. In meinem Uhrwerk. Das Gift.« Dann zog sie einen großen

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