Toten-Welt (German Edition)
überhandnehmen.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, was sie tat, riss sie sich los, tauchte unter den sofort nach ihr greifenden Händen weg, schlug einen Haken um ihre Bewacher und rannte blindlings davon.
„Frieda, meine Liebe. Ich danke Ihnen für alles, was Sie für mich getan haben und noch tun werden und wünsche Ihnen alles Glück dieser Erde. Machen Sie’s gut.“
„Was hab ich denn getan?“, fragte Frieda völlig verdattert und begriff erst, nachdem sie die Frage ausgesprochen hatte, dass sie zugleich nebensächlich und alles entscheidend war, aber eine unausgesprochene Frage sehr viel drängender. Wicca hatte völlig überraschend ihre Hände ergriffen, sie fest gedrückt und geschüttelt, abrupt losgelassen und schob Frieda nun nach links in einen abzweigenden Gang.
„Und was soll ich denn so ganz allein...?“
„Gehen Sie Ihren Trieben nach. Sie haben die glücklichsten Augenblicke Ihres Lebens vor sich, mein Kind. In dieser Richtung finden Sie Massen meines Mittels und eine ganze Horde attraktiver junger Männer. Sie sind bildhübsch und unsterblich. Niemand kann Ihnen widerstehen. Lassen Sie’s krachen.“
Ohne dass sie ein Wort zu ihr gesagt oder ihr einen stummen Wink gegeben hätte, folgte Irene Bomhan Wicca nun den anderen Gang entlang und verschwendete keinen Gedanken mehr an die bisherige Begleiterin. Deren Schicksal hatte sich enthüllt. Bald würde sie ihr eigenes erfahren.
Der Höhepunkt nahte. Der Hase war der Renitente, Frieda war die Ablenkerin, sie selbst die Lichtträgerin. Dass sie die Kerze halten und tragen durfte, verstand sie vor allem symbolisch. In dem Moment, in dem sie in die Burg eingedrungen waren und sie selbst damit eine neue, unheimliche, verheißungsvolle Szenerie betrat, spürte sie, dass alles zur Auflösung hin drängte.
Sie war nun die alleinige Begleiterin und rechte Hand der Göttin, die ihre alte Welt zerstört und eine völlig neue erschaffen hatte. Sie, Irene Bomhan, war eine Auserwählte!
Das gleiche Gefühl hatte auch der Hase. Er hatte sich Zugang zu Wiccas Privaträumen unter dem Ravelin verschafft mit seinem selbst zurechtgebogenen Dietrich. Nun stand er vor den geheimnisvollen Riesenkörpern und ihren weißhaarigen Köpfen und zitterte vor Aufregung.
Er wusste, er war dafür ausersehen, es zu tun. Er wollte es nicht tun und wollte es unbedingt. Es war verboten. Nicht mal Wicca hatte es gewagt. Es konnte alles verändern und ihn töten, aber er hatte keine anderen Ziele und Wünsche mehr auf dieser Welt.
Es hatte mit der Tageszeit zu tun, dass ihn der Zwang so übermächtig befiel. Vor ein paar Stunden, als es draußen noch hell gewesen war, hatten Körper und Köpfe wie mumifiziert gewirkt, leicht eingetrocknet und mit hohlen Gesichtszügen. Jetzt, da sie die Feuchtigkeit der Nacht saugten, standen sie in vollem Saft, schienen im trüben, flackernden Licht zu pulsieren und nach ihrer Vereinigung zu schreien.
„Wen zuerst?“, fragte der Hase leise und durchaus nicht sich selbst. Er erwartete Befehle. Ohne etwas gehört oder gespürt zu haben, trat er hinter das Wesen, das rechts von ihm lag, und griff nach dem Kopf.
Die langen, weißen Haare fühlten sich an wie ein brüchiges, klebriges Gespinst. Er hätte gern wieder los gelassen, aber konnte es nicht. Der Kopf schien von selbst zu seinem Körper zu streben und seine Hände mitzuziehen. Als hätte allein die Berührung eines willigen Lebendigen gereicht, das Wunder in Gang zu setzen.
Die getrennten Halsenden wuchsen einander entgegen. Erst glaubte er an eine Sinnestäuschung, aber dann sah er tatsächlich Adern und Nervenbahnen aus den Stümpfen herauslecken und sich aufeinander zu schlängeln, je näher sie sich kamen. Aus dem Kopfende der Halswirbelsäule schoss das Rückenmark wie eine Schlange auf das Rumpfende zu und drang in das Wirbelloch des Nackenstumpfes ein.
Damit war die Vereinigung unumkehrbar. Nerven und Sehnen und Muskeln und Adern verbanden sich, Tausende kleiner und kleinster Kontakte entstanden. Dem Hasen wurde der Kopf aus den Händen gerissen, als die überdehnten Halsenden sich, fest aneinander gefügt, auf ihre ursprüngliche Länge zusammenzogen und der Schädel sich an seinem einstigen Platz über den Schultern einrenkte. Die blassgraue Haut schloss sich zu einem Ring, der vernarbte und verschwand.
Die Jahrhunderte lange Trennung war aufgehoben.
Aus der geöffneten Schnauze des Wesens drang ein erleichtertes Seufzen. Auf dem Rücken liegend, begann es
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