Totenacker
Nachschubstraßen und Bahnlinien zu zerstören, dadurch war Kleve immer wieder Jaboangriffen ausgeliefert.»
«Jabos, das sind Jagdbomber, nicht wahr?», fragte Penny und las aus ihren Notizen vor: «Am 22. September 1944, einem Freitagnachmittag, fallen in Kleve dreizehn Menschen einem Jaboangriff zum Opfer, Stadthaus und Stadtbad werden zerstört, sieben Menschen sterben in ihrem Wohnhaus an der Kalkarer Straße. ‹In der Wohnung gefallen durch Feindeinwirkung›, steht hier. Könnte das denn nicht auch auf unsere Toten zutreffen, selbst wenn dort am Opschlag kein Haus gestanden hat? Vielleicht waren sie Besucher des Schwimmbads, das lag doch gleich um die Ecke.»
«Nein», entgegnete van Appeldorn. «Man hätte sie auf dem Friedhof beigesetzt, in jedem Fall.»
«Weißt du das wirklich so genau? In dem Chaos?», fragte Penny. «Hört mal, hier: ‹Einen Tag später nur ist das Bahngelände den ganzen Tag lang Jaboangriffen ausgesetzt, dabei kommen am Güterbahnhof mehrere Menschen um.›»
Auch Cox hatte seine Zweifel. «Wir haben gelesen, dass Hunderte von Fremdarbeitern auf der Flucht durch die Stadt gekommen sind, dass auch auf Zivilisten geschossen wurde. Was, wenn unsere Toten Schanzarbeiter waren? Kein Mensch in Kleve kannte diese Leute, sie hatten hier keine Verwandten, vermutlich wollte auch niemand etwas mit ihnen zu tun haben. Also hat man sie einfach begraben, möglichst schnell, vielleicht dort, wo sie umgekommen sind. Es war Krieg, da war nichts mehr normal.»
«Sicher», nickte Schnittges, «möglich ist alles.»
Es klopfte, und Bonhoeffer und van Gemmern kamen herein.
«Ihr seid allein», beschwerte sich van Appeldorn. «Schade, ich hatte gehofft, wir würden die wunderbare Marie kennenlernen.»
Bonhoeffer lachte, van Gemmern nicht, er zog sich auf einen Stuhl in der Ecke zurück.
«Ich konnte sie leider nicht von ihren Analysen weglocken», erklärte Bonhoeffer. «Und sie ist in der Tat wunderbar. Ohne sie wären wir längst noch nicht so weit.»
Während er erzählte, wie er so schnell eine Assistentin gefunden hatte, legte er jedem von ihnen einen Ausdruck hin und blieb dann am Fenster stehen.
«Es handelt sich um die Skelette von acht Personen», begann er. «Bei keinem habe ich die Todesursache feststellen können, es gibt keinen Hinweis auf äußere Gewaltanwendung. Wie Klaus mir sagt, habt ihr mit dem Gedanken gespielt, die Menschen könnten Bombenopfer sein. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall, denn es gibt keine Verletzungen, die auf ein solches Trauma hindeuten.
Welche Personen sind es nun, die dort vor ungefähr fünfundsechzig Jahren begraben wurden?
Als Erstes wäre da ein etwa vierzig Jahre alter Mann vermutlich slawischen Ursprungs, bei dem einige Zeit vor seinem Tod eine fachgerechte Oberschenkelamputation rechts durchgeführt wurde. Dann ein circa fünfundzwanzig Jahre alter Mann mit schweren Gesichtsverletzungen, die ebenfalls fachgerecht behandelt worden waren, ich habe Drähte gefunden. Eine junge Frau, noch keine zwanzig Jahre alt, mit Riesenwuchs am linken Bein. Eine weitere Frau, zwischen fünfundvierzig und fünfzig, mit pes equinovarus, also einem Klumpfuß. Schließlich eine etwa dreißig Jahre alte Frau mit Kyphose durch Rachitis.»
«Ja», nickte er Bernie zu, der den Finger gehoben hatte. «Mit einem Buckel, sagt man wohl. Und dann haben wir drei Kinder. Zwei von ihnen etwa zehn bis zwölf Jahre alt, männlich, beide mit Trisomie 21, also Down-Syndrom oder Mongolismus, wie man früher sagte. Und ein kleines Mädchen, vielleicht zwanzig Monate alt, mit einem Hydrozephalus, einem Wasserkopf.»
Es war Bernie, der schließlich als Erster sprach.
«Unwertes Leben …» Seine Stimme klang rau.
«Wie bitte?» Penny blickte verstört.
«Lebensunwertes Leben, die Nazis, Euthanasie, du weißt schon.»
Sie nickte unsicher.
«Ich habe im Erdreich in der Umgebung der Skelette übrigens keinerlei Hinweise auf Kleidung gefunden», meldete sich van Gemmern nun auch zu Wort. «Keine Knöpfe, keine Schnallen, keine Fasern. Das bedeutet wohl, dass die Leichen dort nackt vergraben wurden.»
Penny schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht glauben. «Menschen mit Missbildungen oder Verletzungen, die man nackt verscharrt hat, weil sie ‹unwertes Leben› waren?»
Cox schaute Bonhoeffer fragend an. «Aber du sagtest doch, es gibt keinen Hinweis auf äußere Gewalt.»
«Das stimmt zwar», entgegnete Bonhoeffer. «An den Knochen kann man keine Gewaltanwendung
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