Totenacker
feststellen, es gibt keine Schussverletzungen, keine Schädelfrakturen. Aber das heißt nicht, dass sie nicht gewaltsam zu Tode gekommen sind. Sie könnten erwürgt, erdrosselt, ertränkt oder vergiftet worden sein.»
«Oder vergast», fügte Schnittges finster hinzu.
«Hier in Kleve? Bestimmt nicht», beteuerte van Appeldorn. «Davon hätte ich gehört.»
«Aber das Landeskrankenhaus in Bedburg-Hau war eine Euthanasieklinik, wie du wahrscheinlich weißt. Und so weit ist das ja nicht weg.»
«Du kannst nicht beweisen, dass sie ermordet wurden, Arend?», wollte Penny wissen.
«Nein, bis jetzt nicht. Marie sitzt gerade an der toxikologischen Untersuchung der Knochen und Zähne, aber wir müssten schon sehr viel Glück haben, wenn wir dort noch etwas nachweisen könnten.»
«Das bedeutet doch … entschuldigt, aber das habe ich alles schon zu Hause erlebt … das heißt doch, dass der Staatsanwalt, wenn er sich stur stellt, gar kein Verfahren eröffnen muss.»
«Weil sie alle eines natürlichen Todes gestorben sind?», fragte Bernie böse. «Nach dem Motto: Treffen sich acht nackte Krüppel am Opschlag, schaufeln eine Grube und legen sich zum Sterben hin?»
«Nun mal halblang», versuchte van Appeldorn die Wogen zu glätten. «Bei dem Presseauftrieb wird der Staatsanwaltschaft gar nichts anderes übrigbleiben, als zu ermitteln.»
«Und wir suchen dann Mörder, die wahrscheinlich schon tot sind, nach fünfundsechzig Jahren.» Penny schien immer noch ein bisschen außer Fassung.
Cox fragte sich, wie gut sie eigentlich Bescheid wusste über Nazideutschland und all das Grauenvolle, das damit zusammenhing.
Dann fiel ihm etwas ein. «Sag mal, Arend, könntest du mit deinem neuen 3-D-Programm Gesichtsrekonstruktionen hinbekommen?»
«Ja, selbstverständlich, aber das dauert natürlich ein paar Tage.»
«Glaubst du denn wirklich, dass irgendjemand die Menschen heute noch erkennen würde?», fragte Penny.
«Warum denn nicht?», sagte Schnittges. «Diese Kinder hatten Eltern, vielleicht Geschwister. Und es könnte doch auch jemand auf alten Familienfotos seine Tante wiedererkennen. Auf jeden Fall wäre es ein guter Anfang, wenn wir wüssten, wer diese Menschen waren.»
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Vier
Van Appeldorn war zur Staatsanwaltschaft gefahren.
Schnittges stand vor dem alten Stadtplan. «Habt ihr das gesehen? Dort, wo heute das Rathaus ist, war früher ein Krankenhaus.»
«Ja.» Peter Cox fischte ein Blatt aus dem Stapel, der vor ihm lag. «Das habe ich auch im Netz gefunden. Das St.-Antonius-Hospital gab es seit 1845, es wurde von Nonnen geführt, den Clemensschwestern, und war vor dem Krieg mit 320 Betten das größte und beste Krankenhaus am unteren Niederrhein. Bei den Bombenangriffen auf die Stadt ist es zerstört worden, und man hat nach dem Krieg an der Albersallee ein neues gebaut.»
Bernie schaute sich immer noch die Karte an. «Vom Hospital bis zum Opschlag sind es nur ein paar hundert Meter.»
«Ja, schon», stimmte Cox ihm zu, schüttelte dann aber den Kopf.
Penny gab sich einen Ruck. «Ich glaube, ihr müsst mir mal ein bisschen auf die Sprünge helfen. Ihr habt die Geschichte eures Landes vermutlich schon mit der Muttermilch eingesogen, aber ich bin halt – wie sagt Jupp immer so nett – eine kleine Engländerin.» Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs hellrote Haar. «Ich meine, ich weiß, dass die Nazis sechs Millionen Juden umgebracht haben, Zigeuner und Menschen, die sie für kriminell hielten. Aber ihr hattet das sofort parat: ‹unwertes Leben› … Bei der sogenannten Euthanasie ging es denen doch darum, die arische Rasse rein zu halten, nicht wahr? Aber wenn ich mich richtig erinnere, war Euthanasie doch keine Erfindung der Nazis, oder?»
«Nein», bestätigte Schnittges. «Diesen Gedanken gab es schon Anfang der zwanziger Jahre. Man bezog sich auf die Naturvölker, die angeblich immer schon eine Auslese getroffen hatten, und nannte es Tötung von ‹Ballastexistenzen› und ‹leeren Menschenhülsen›.»
Penny starrte ihn an, und Cox ergänzte: «Aber erst die Nazis haben die systematische Ausmerzung ‹lebensunwerten› Lebens bewusst geplant und in ihrem Euthanasie-Programm durchgeführt. Über 100000 Menschen sind damals umgebracht worden.»
Penny zeigte auf den Stadtplan. «Aber diese Tötungen hat man doch nicht einfach in normalen städtischen Krankenhäusern durchgeführt.»
«Nein», gab Bernie zu. «Die Menschen wurden deportiert und an Sammelstellen
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