Totenacker
Sklaven arbeiten ließen. Mein Dad war erst zwei Jahre alt, und er kam nach Pershore zu diesem netten, kinderlosen Paar, Granny und Grampa Small. Grampa hatte ein Holzbein und musste deshalb nicht in den Krieg. Als der ganze Horror dann vorbei war, waren Dads leibliche Eltern beide tot, und die Smalls haben ihn adoptiert. Und so hatte er eine wunderbare Kindheit, eine gute Schulbildung, die er sonst nie bekommen hätte, und konnte sogar studieren. Und meine Mutter kennenlernen. And they lived happily ever after.»
Dann wurde sie unvermittelt ernst. «Ich rufe jetzt Britta an. Bestimmt kümmert sich Gereons Familie um die Beerdigung, aber vielleicht braucht sie ja doch unsere Unterstützung.»
Van Appeldorn wartete, bis Ullis Atemzüge gleichmäßig waren, und stand dann wieder auf. Leise ging er durchs dunkle Haus ins Arbeitszimmer, schaltete die Schreibtischlampe ein und vertiefte sich in sein Buch. Sofort stellten sich Bilder ein: Am 26. September 1944 wurde Kleve zum ersten Mal schwer bombardiert. Das Hauptziel war die Unterstadt. In der Minoritenkirche stürzte ein Teil des Gewölbes ein. Das St.-Antonius-Hospital wurde so schwer beschädigt, dass es geräumt werden musste, im Isolierhaus war der Keller eingestürzt, die Kinderstation brannte.
Innerhalb von fünfzehn Minuten kamen achtundsechzig Einwohner von Kleve ums Leben.
Über der Stadt kreisten jetzt immer öfter nicht nur Jabos, sondern auch viermotorige Bomber. Sie hatten die Flakstellungen und die deutschen Truppen im Visier, die im Reichswald lagen.
Schon seit 1939 gab es Pläne für eine geordnete Evakuierung der Stadt, aber die stießen in der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Nachdem am 17. September die Front vom Himmel gefallen war, wurde die Frage, was mit der Zivilbevölkerung passieren sollte, dringlicher, denn man rechnete mit feindlichen Vorstößen. In den anderen Städten des Reiches hatten Zwangsevakuierungen zu Schwierigkeiten geführt, deshalb war man in Kleve vorsichtig. Das Ansehen der Partei war sowieso schon schwer angeschlagen. Bis zum 7. Oktober 44 hatte etwa ein Drittel der Bürger Kleve verlassen, meist allerdings nicht, wie von den Nazis gewünscht, in den Gau Magdeburg-Anhalt, sondern zu Verwandten und Freunden in Gemeinden, die ein wenig weiter von der Front entfernt lagen.
Im Herbst 1944 gab es kaum noch eine Möglichkeit, schnell aus der Stadt herauszukommen. Bahnhof und Gleisanlagen waren zerstört. Züge fuhren erst wieder ab Moers oder Kempen und wurden von Tieffliegern beschossen. Lastwagen und Omnibusse fehlten. Glücklich diejenigen, die ein Fahrrad besaßen, alle anderen mussten sich zu Fuß auf den Weg machen.
Der 7. Oktober, ein Samstag, war ein klarer, ungewöhnlich warmer Herbsttag. Den ganzen Morgen schon kreisten Flugzeuge über der Stadt, aber für die Klever war das jetzt schon fast alltäglich. Wenn es brenzlig wurde, konnte man ja immer noch schnell in den Keller laufen. Nach dem 26. September hatten einige Hals über Kopf die Stadt verlassen, aber viele waren noch dabei, ihre Sachen zusammenzupacken. Was man nicht mitnehmen konnte, wurde versteckt, irgendwie in Sicherheit gebracht, denn die abziehenden deutschen Soldaten, die durch den Ort kamen, plünderten.
Dann hieß es plötzlich um 13 Uhr 40: akute Luftgefahr! Am Himmel standen ‹Christbäume›, rote und grüne Leuchtkugeln, die das Zielgebiet der Bomber absteckten.
Das Bombardement dauerte dreißig Minuten und zerstörte die ganze Stadt. Über 600 Klever Bürger kamen um. Ukrainische Fremdarbeiter hoben auf dem Friedhof Massengräber aus.
Van Appeldorn lehnte sich zurück.
Wie passten ihre Toten in das Szenario?
Die beiden Männer, einer beinamputiert, der andere mit einem zerstörten Gesicht, das konnten Frontsoldaten gewesen sein, die man versehrt in die Heimat zurückgeschickt hatte. Dann hatten sie vielleicht im Krankenhaus gelegen. Aber was war mit den Frauen und den Kindern? Konnten auch sie im Krankenhaus gewesen sein? Bei dem Angriff am 26. September waren sie nicht verletzt worden, ihre Knochen waren heil.
Hatte man das Krankenhaus danach komplett geräumt? Er blätterte ein paar Seiten zurück. Und wohin hatte man die Kranken gebracht?
Endlich fand er es: nach Bedburg.
Auf einmal fühlte er sich todmüde. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Er fror.
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Fünf
Nach der Frühbesprechung war Penny gleich wieder zum Stadtarchiv gefahren. Sie hatte sich einen Tisch am Fenster gesucht und sich
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