Totenbeschwörung
seine Mutter, sein Bruder und vor allem Misha seien tot, hatte er ganz ähnlich empfunden. Allerdings hatte er immer noch den Funken Hoffnung gehegt, wie schwach er auch gewesen sein mochte, sie könnten den ganzen Schrecken irgendwie überlebt haben. Und so war es ja auch gewesen! Cynthia dagegen war unleugbar tot und ihre Eltern wussten es. Sie hatten sich um sie gekümmert, sie gepflegt und mit ihr gegen die Krankheit angekämpft und an ihrem Bett gestanden, damit sie nicht allein war, als sie den letzten Atemzug tat.
Alles war genau so, wie Nathan es Trask erklärt hatte. Sie dachten immerzu nur an Cynthia, trauerten, und all ihr Denken drehte sich nur noch darum, wo Cynthia jetzt wohl sein und wie es ihr gehen mochte. Es war, kurz gesagt, die Erfahrung, die ein jeder macht, der einen geliebten Menschen verliert. Man sah ein Kind auf der Straße, das ihr ähnlich sah, und fragte sich, warum sie und nicht ... Denn Cynthia mochte zwar tot sein, aber die Wunde war noch zu frisch. Ihre Eltern konnten es einfach nicht akzeptieren. Sie war gegangen, ja, aber tot? Unmöglich! Nicht, wo doch all die anderen Kinder, jeder andere Mensch ...
Eine Zeit lang lauschte Nathan ihren Gedanken, bis er es nicht mehr länger ertrug.
Sie ist von euch gegangen, gewiss, erscholl seine Stimme in beider Köpfe zugleich. Aber nur für diese Welt ist sie tot!
»Wer ...?« Der Mann blickte zu seiner Frau. Sie war noch jung.
»Was ...?« Sie machte ganz große Augen.
Während Zek ihn nach Kräften unterstützte, legte Nathan all seine Stärke und all sein Gefühl – dasselbe Mitgefühl, welches seinen Vater zum Liebling der Toten gemacht hatte – in seine nächsten Worte: Ja, es stimmt, sie lebt, aber in einer anderen Welt, in der sie Freunde im Überfluss hat. Quält euch nicht länger, sondern glaubt. Sie kann dort glücklich werden, solange sie weiß, dass ihr es ebenfalls seid!
Cynthias Vater fuhr hoch wie von der Tarantel gestochen und durchmaß stolpernd das ganze Zimmer. In seiner Hast stieß er ein Beistelltischchen um und sah überall nach – ohne Ergebnis! Es war ja auch niemand da. »Ich höre es in meinem Kopf!«, sagte er schließlich.
»Ich auch!«, rief seine Frau.
Ihr hört mich beide, sagte Nathan. Glaubt ihr mir nun? Es verhält sich ganz einfach. Man nennt es ...
»... den Glauben!«, rief die Frau aus und sank in Ohnmacht. Ihr Mann fing sie auf, ehe sie fallen konnte, und richtete den Blick zur Decke, ließ ihn durch das leere Zimmer schweifen.
»Ich ... ich habe nie an irgendetwas geglaubt.«
Und glaubst du mir?
»Ja! Oh, ja!«
Das wird sie freuen. Dann wird sie glücklich sein.
»Nur ... wo?«
Im Jenseits! Ihr dürft allerdings niemals auch nur mit dem Gedanken spielen, ihr zu folgen. Das ist euch verwehrt, so lange, bis eure Zeit gekommen ist. Dann wird sie euch erwarten. Aber nicht allein, denn all ihre Freunde werden bei ihr sein.
Mit seiner Frau in den Armen sank der Mann auf die Couch. »Wer ... bist du?«, schluchzte er.
Ein Freund von Cynthia, antwortete Nathan schlicht. Nur einer von ... von vielen ...
Als der Mann in Tränen ausbrach und losschluchzte »Gott vergib mir! Ich habe nicht geglaubt. Danke! Danke!«, zog Nathan sich zurück.
Unterwegs zum Wagen fragte Zek: »Werden sie es verkraften?«
»Sobald es hell ist, kommen wir wieder und sehen nach!«
Sie kamen wieder und sie sahen das Ergebnis. Aus dem Kamin des Hauses stieg der Rauch eines Holzfeuers auf. Der Mann war im Garten, hatte die Ärmel hochgekrempelt und montierte die Schaukel ab. Cynthia brauchte sie nun nicht mehr, nicht jetzt, wo sie doch im Jenseits war und endlich Freunde gefunden hatte. Kurz darauf kam seine Frau aus dem Haus und legte ihm die Arme um den Hals. Eng umschlungen und angeregt miteinander plaudernd gingen sie zurück ins Haus ...
Auf dem Rückweg zum Hotel bat Nathan Trask, für eine Minute am Friedhof in der Blackhall Road zu halten. Als sie wieder wegfuhren, lehnte er sich in seinem Sitz zurück, schloss die Augen und seufzte: »Ihrem Vater und ihrer Mutter geht es jetzt wieder gut. Und Cynthia ebenfalls ...«
Als sie vor dem Hotel anlangten, sprang ein Beamter des Sicherheitsdienstes aus seinem unauffälligen Wagen und rannte zu ihnen. »Sir?«
Trask konnte ihm am Gesicht ablesen, dass es sich um etwas Wichtiges handelte. »Was ist los?«
»Eine Nachricht! Dringend! Sie kam gerade über Funk!« Er reichte Trask einen Zettel und kehrte zu seinem Wagen zurück. Trask blickte ihm nach. Bloß keine
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