Totenblüte
bei dem Gedanken an die vielen verpassten Gelegenheiten, was Männer betraf. Dann Gary, der sich erfolgreich einredete, dass Julie die Antwort auf alle seine Wünsche sein würde, und dabei immer noch einem spindeldürren Mädchen mit großen Augen und kaum Busen nachtrauerte. Samuel, dessen Frau Selbstmord begangen hatte. Und Peter, der vorgab, eine Bilderbuchehe zu führen, und trotzdem Lily Marshs Charme erlegen war. Plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass es nur einen offensichtlichen Verdächtigen gab. Doch solange sie nicht wusste, warum Lily und Luke getötet worden waren, blieb diese Erkenntnis bloße Vermutung. Sie würde weiter in alle Richtungen ermitteln müssen.
Sie holte sich noch ein Bier, obwohl sie wusste, dass das ein Fehler war und sie nur wieder mitten in der Nacht aufs Klo müsste. Schließlich ging sie schwankend nach oben, ins Bett, ohne einer Lösung auch nur einen Schritt näher gekommen zu sein. Sie zog die Kurzgeschichtensammlung von Samuel Parr aus der Handtasche und fing an zu lesen.
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
Gary hatte bei der Arbeit eine ruhige Phase. Die Band war gerade mit der Probe fertig, und er hatte den Sound so gut eingerichtet, wie es eben ging. Was allerdings vermutlichkeinem auffallen würde. Die Musiker kamen aus Schweden, sie spielten experimentellen Jazz, seltsam dissonanten Lärm, der Gary in den Ohren wehtat. Jetzt hockten sie an der Bar und warteten auf ihren Auftritt. Es hatte Zeiten gegeben, da hätte Gary sich zu ihnen gesetzt und Pint für Pint mit ihnen Schritt gehalten. Nachdem Emily ihn verlassen hatte, war er ziemlich am Boden gewesen. Der Schock war einfach viel zu groß. Er erinnerte sich immer noch bis ins Detail daran, wie sie ihm erklärt hatte, dass es keine Hochzeit geben würde: die Jeans, die sie anhatte, die Art, wie sie das Haar zurückgebunden hatte, das Parfum, das sie trug.
Sie hatten alles längst geplant. Das Kleid war gekauft, die Einladungen verschickt. Sie hatten in Jesmond eine Wohnung gefunden, die sie kaufen wollten. Emily arbeitete bei der Bank Northern Rock und hatte eine günstige Hypothek bekommen. Gary machte die Aussicht, plötzlich eine Ehefrau und eine Wohnung zu haben, zwar eine Heidenangst, doch er hatte mitgespielt, weil Em es so wollte. Er hätte alles für sie getan. Ihre Mutter hatte ihn zwar nie gemocht, doch die Vorstellung, eine große Hochzeit zu feiern, gefiel ihr, und sie hatte bereits alles organisiert: die Kirche, die Torte, die Abendgarderobe. Für ihre Emily war ihr nur das Beste gut genug.
Und dann war aus heiterem Himmel ein Typ aufgetaucht, den Em noch von der Uni kannte, und hatte ihr ewige Liebe geschworen. Ein mageres, schmächtiges Jüngelchen, gar nicht mal unattraktiv, wenn man auf diese unterernährten Dichtertypen stand. Was bei Emily anscheinend der Fall war, denn zwei Wochen vor dem großen Tag hatte sie Gary den Laufpass gegeben. Sie war immer noch mit dem Typen zusammen, der inzwischen als Lehrer an einer Schule in Ponteland arbeitete. Einmal hatte Gary ihn in der Stadt ineiner Kneipe gesehen und ihm eine verpasst. Der Typ hatte es mit Fassung getragen, aber Gary hatte anschließend eine Anzeige wegen öffentlicher Ruhestörung am Hals. Er war damals ziemlich betrunken gewesen. Heute würde er bestimmt ganz anders reagieren.
Er hatte Emily vergöttert und sie damit in die Flucht geschlagen. Wer konnte so einem Ideal schon entsprechen? Der magere Knabe konnte gar nichts dafür.
Inzwischen trank Gary nicht mehr bei der Arbeit.
Wenn ich im Büro arbeiten würde, säße ich ja auch nicht mit einer Flasche Wein auf dem Schreibtisch da.
Das erklärte er den anderen Jungs in dem engen, abgetrennten Stück Flur, das sich Büro schimpfte. Hinter den Kulissen des Sage kam man sich eher vor wie in einem U-Boot , nicht wie in einer superschicken neuen Konzerthalle. Nur Rohre, Kabel und graue Kellerfarbe.
Gary nahm seine Arbeit ernst. Nur darin war er wirklich gut, es gab ihm Halt. Als seine Eltern damals das Haus in Spanien kauften, hatten sie ihn gefragt, ob er nicht mitkommen wollte. Dort gebe es bestimmt genug für ihn zu tun, sagten sie. Bei den vielen Kneipen. Fast überall werde Live-Musik gespielt, da brauchten sie sicher auch jemanden für den Ton. Doch Gary hatte beschlossen, in Shields zu bleiben. Hier hatte er seine Wohnung und seine beruflichen Kontakte. Und seine Vogelfreunde. Er konnte sich die Auftritte aussuchen, die er machen wollte. Diese Freiheit würde er mit der festen Stelle im Sage
Weitere Kostenlose Bücher