Totenblüte
jetzt zwar aufgeben, aber er sagte sich, dass er es trotzdem nicht bereute. Zumindest fast nicht.
Er stieg die Stufen zur kleinen Konzerthalle hinauf, hielt seinen Ausweis vor die Tür, die in den Backstage-Bereich führte, und ging dann weiter den Flur entlang bis zum Büro der Techniker. Neil, sein Chef, saß weit zurückgelehntauf seinem Schreibtischstuhl und hackte eifrig auf die Tastatur ein.
«Wegen dem Angebot mit der festen Stelle», sagte Gary.
«Ja?» Neil machte sich nicht einmal die Mühe, den Blick vom Bildschirm zu heben. Er hatte Gary schon oft genug gefragt und jedes Mal einen Korb bekommen.
«Ich habe mich entschieden, das Angebot anzunehmen.»
Das sicherte ihm die nötige Aufmerksamkeit. Neil stellte die Lehne seines Stuhls wieder gerade und hörte auf zu tippen. Seine Miene, als er sich zu Gary umdrehte, war wirklich sehenswert. Er sprang auf, drückte Gary die Hand, schlug ihm herzlich auf die Schulter. Gary merkte, dass er ebenfalls strahlte. Doch als er das Büro verließ, zitterte er am ganzen Körper. Was hatte er da eigentlich getan?
Plötzlich stand ihm ein Bild vor Augen, wie alles werden würde. Julie und er würden zusammen in dem Haus in Seaton wohnen. Es war ein guter Ort zum Leben. Nah genug an der Küste, um schnell dort zu sein, wenn der Wind drehte und die Zugvögel kamen. Nah genug am Ausguck, um Seevögel zu beobachten. Natürlich konnte er sie diesbezüglich nicht drängen. Lukes Tod nahm sie noch sehr mit. Aber er war sich sicher, dass sie diese Tragödie unbeschadet überstehen würde. Sie war eine starke Person. Sie würde sich nicht verändern. Außerdem war er ja da, um sie zu unterstützen und ihr zu helfen, diese Zeit zu überstehen.
Er war sich auch gar nicht sicher, wie er mit einem Stiefsohn klargekommen wäre. Ob Julie wohl von ihm erwartet hätte, dass er sich wie ein Vater benahm? Er gestand es sich zwar nicht gerne ein, aber im Grunde war er gar nicht traurig darüber, dass Luke tot war. Das hätte alles viel komplizierter gemacht. Der Junge hätte für Julie immer an erster Stelle gestanden. Gary fand es schrecklich von sich, dieDinge so zu sehen, aber er konnte nichts dagegen machen. Das brachte ihn wieder auf Laura. Er dachte daran, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, draußen auf der Straße vor dem Haus in Seaton. Sie hatte ihm nachgesehen, als er wegfuhr. Ihn taxiert. So war es ihm wenigstens vorgekommen. Er sah sie vor sich in ihrem schwarzen kurzen Rock und der weißen Bluse und gab sich Mühe, sie nicht sexy zu finden. Wenn er mit Julie zusammenkam, würde sie wie eine Tochter für ihn sein, da war das doch einfach nur ekelhaft. Aber irgendetwas an ihr … ihre Jugend vielleicht, ihre Energie, ihr Trotz … das ging ihm unter die Haut. Manchmal hatte er das Gefühl, dass Laura ihm mindestens so oft durch den Kopf ging wie Julie. Vielleicht war es ja die ungefährlichere Option, erst in das Haus in Seaton zu ziehen, wenn Laura richtig erwachsen war.
Ihm blieb noch eine halbe Stunde, bis der Auftritt begann, und er ging nach draußen, um etwas frische Luft zu schnappen, umrundete das riesige, muschelförmige Gebäude bis zur Vorderseite und schaute auf den Tyne hinaus. Seine Eltern waren nach Spanien ausgewandert, weil sie das Wetter hier nicht mehr ertrugen, doch er konnte sich gar nicht vorstellen, anderswo zu leben. Er war stolz auf diese Stadt. Er erzählte den Leuten gern, dass er im Sage arbeitete. Rechts von ihm, ein Stück flussabwärts, erhob sich die Baltic Gallery wie ein gewaltiger Klotz. Gary erinnerte sich noch an die Zeit, als das Gebäude nur ein verfallenes Lagerhaus gewesen war, in dessen Mauerspalten Möwen nisteten und an dessen Fassade der Vogeldreck klebte. Als das Museum eröffnet wurde, hatte er sich zusammen mit Samuel die Gormley-Ausstellung angeschaut. Alleine wäre er da sicher nicht hingegangen. Er fühlte sich hinter der Bühne am wohlsten. Aber die Skulpturen, all diese Gestalten aus gebogenem Metall, so zart wie Zuckerwatte, hattenihm richtig gut gefallen. Es war seltsam gewesen, mit Samuel dort zu sein, der teilweise sogar das Personal kannte. Er war Teil des Kunst-Klüngels an der Tyneside, den Gary eigentlich verabscheute. Die Leute kamen ihm immer vor wie Außerirdische, wenn sie sich im Sage blicken ließen.
Die Flut hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht, die Wellen schwappten nur noch träge und schienen sich schon wieder auf den Rückzug vorzubereiten. Am Nordufer strömten Leute aus den Kneipen. Gary
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