Totenblüte
dachte sie. Vielleicht kann ich es dann ja loslassen. Doch sie war viel zu erschöpft, um aufzustehen und sich Papier und Stift zu holen. Im Übrigen hatte diese Konzentration, dieser Zwang, alle Einzelheiten auf einmal im Kopf zu haben, auch etwas Kreatives. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass es Schriftstellern vielleicht ganz ähnlich ging. Auch sie hatten all diese Personen, Geschichten und Ideen im Kopf. Wie schaffte man es, eine Ordnung hineinzubringen? Ihnen Sinn zu geben und eine Form?
Wenn ich einen Roman schreiben würde, dachte Vera, dann wäre Lily die Mörderin. Es würde ein psychologischer Thriller werden, bei dem ein Teil der Handlung aus Sicht der Mörderin erzählt wird, entweder im Präsens oder in einer anderen Schriftart. Manchmal lieh sie sich ähnliche Bücher aus der Bücherei aus; es machte ihr Spaß, sie quer durchs Zimmer zu pfeffern, wenn mal wieder irgendein polizeilicher Ablauf falsch geschildert wurde. Dann ist also Lily die Hauptfigur. Verkorkst von Kindesbeinen an. Eine verklemmte Mutter, ein depressiver Vater. Eine psychische Erkrankung, die von der Mutter unter den Teppich gekehrt, versteckt und niemals richtig diagnostiziert wird. Sie ist eine Einzelgängerin, eine schöne, besessene Einzelgängerin. Der Leser erlebt, wie sie sich in einen älteren Mann verliebt. In ihm sieht Lily ihren Retter, und eine Zeit lang ist sie sogar glücklich. Dann weist er sie plötzlich ab, weil sie zu viel fordert, ihm lästig wird, und sie hat einen neuen Krankheitsschub. Sie bildet sich ein, schwanger zu sein. Wo sie geht und steht, sieht sie lauter glückliche Familien. Kath, Geoff und Rebecca. Und Luke. Im Roman könnte sie den Jungen im Zorn umbringen. Ein krankhafter Racheakt. Ihr würde gar nicht auffallen, dass auch er eine ganze Menge durchgemacht hat.
Ohne es zu merken, war Vera ins Haus zurückgegangen, hatte die leere Bierdose in die Kiste mit dem Recyclingmüll geworfen und das Küchenfenster geöffnet, um zu lüften. Sie schob die beiden letzten Scheiben Brot unter den Ofengrill, schnitt Käse auf, um ihn daraufzulegen, musterte die ungeöffnete Flasche Weißwein im Kühlschrank und widerstand der Versuchung. Stattdessen nahm sie sich noch eine Dose Bier.
Und die ganze Zeit über dachte sie nach, spann einzelne Fäden der Handlung weiter. Lily war nicht die Mörderin,sie war eines der Opfer. Wie funktionierte das? Wie konnte das gehen?
Sie war Peter Calvert lästig geworden. Er war glücklich gewesen mit seiner wunderschönen Freundin: Sex auf Knopfdruck, keinerlei Verpflichtungen. Seinem alternden männlichen Ego hatte das ganz sicher nicht geschadet. Aber dann hatte sie plötzlich Forderungen gestellt, sein respektables Leben als angesehener Professor und glücklicher Familienvater bedroht. Die Trennung war keinesfalls einvernehmlich erfolgt, das belegten Lilys Gespräche mit Kath zweifelsfrei. Es konnte unmöglich noch einen älteren Mann in Lilys Leben gegeben haben.
Hatte also Calvert sie umgebracht? Das konnte Vera sich nicht vorstellen. Er war viel zu feige dafür, hatte viel zu viel zu verlieren. Seine Frau hatte ihm schon alles andere im Leben durchgehen lassen – warum also nicht auch das? Vera konnte sich das Gespräch im eleganten Wohnraum von Fox Mill richtiggehend vorstellen: die offenen Fenster, die den leichten Wind vom Meer her einließen, den Blick auf den Leuchtturm.
Es tut mir so leid, Schatz. Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist. Aber du wirst mir sicherlich verzeihen.
Was sie natürlich tun würde; sie hatte ja ebenso viel zu verlieren wie er. Aber wie passte Luke Armstrong in dieses Szenario?
Wäre Lily als Erste getötet worden, hätte es möglicherweise funktioniert. Für ihren Tod gab es Motive. Luke wäre vielleicht ein unfreiwilliger Zeuge gewesen. Doch so herum? Vera setzte sich an den Küchentisch und verzehrte ihren Käsetoast. Sie schaltete das Licht an, das die Unordnung auf der Arbeitsfläche, die Flecken auf dem Boden neben dem Mülleimer erbarmungslos ausleuchtete. Ihre Gedanken kehrten zurück zu den vier Männern, die dabei waren, als Lilys Leiche gefunden worden war. Alle so verschieden.Aber alle ein wenig verkorkst, was ihr Verhältnis zu Frauen anging. Clive, der so sehr unter der Fuchtel seiner Mutter stand, dass Vera es schier zum Heulen fand. Diese Konstellation kam ihr bekannt vor. Sie hatte ja selbst ihr ganzes Leben mit einem einsamen Vater verbracht, und wenn sie es sich erlaubte, konnte sie durchaus weinerlich werden
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