Totenblüte
stand sie plötzlich bei uns zu Hause vor der Tür. Wir hatten den Tag daheim verbracht, so ein Samstagnachmittag, wo man sich einfach nur ausruht. Rebecca spielte draußen im Garten, Geoff schaute irgendein Match im Fernsehen an. Luke war zu Besuch, er saß ebenfalls vor der Glotze. Ich war in der Küche, weil ich Rebecca so am besten im Blick hatte. Und plötzlich sah ich Lily im Garten. Sie hat mit Rebecca geredet, hat sie auf die Schaukel gesetzt und sie angeschubst. Als ich nach draußen kam, hatte sie das Kind schon auf dem Arm.» Kath schwieg. «Ich kann nicht genau sagen, was passiert wäre, wenn ich nicht dazugekommen wäre.»
«Glauben Sie, sie hätte Rebecca mitgenommen?»
«Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich habe ich einfach überreagiert. Mein Gott, sie wollte immerhin Grundschullehrerin werden. Warum hätte sie so etwas tun sollen? Aber ich habe ihr doch sehr klargemacht, dass ich nicht will, dass sie zu uns nach Hause kommt. Ich habe behauptet, Geoff hätte etwas dagegen. Luke kam nach draußen und war sichtlich erschrocken, als er mich so aufgebracht gesehen hat. Lily ist ganz ohne Theater wieder abgezogen, hat sich sogar noch entschuldigt, dass sie anscheinend zu einem schlechten Zeitpunkt gekommen sei. Als sie dann das nächste Mal nach der Arbeit auf mich wartete, habe ich ihr gesagt, ich hätte keine Zeit. Ich kam mir gemein vor, aber ich war schließlich nicht für sie verantwortlich.Ich konnte einfach nichts für sie tun. Ich habe ihr noch einmal gesagt, dass sie ärztliche Hilfe braucht, ihr auch angeboten, ihr irgendwo einen Termin zu machen. Das hat sie wohl als versteckte Drohung empfunden. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Und als ich hörte, dass sie tot ist, war ich ehrlich gesagt erst mal erleichtert. Zumindest wird sie uns jetzt nicht mehr belästigen. Ist das nicht furchtbar?»
«War sie erschrocken, als Sie ihr angeboten haben, einen Termin bei einem Psychiater für sie auszumachen?»
Kath schwieg einen Moment. «Weniger erschrocken als vielmehr wütend», sagte sie dann. «Sie hat nichts gesagt, mich nur ganz böse angeschaut und sich dann ohne ein weiteres Wort abgewandt. Es war schrecklich. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich plötzlich hasst. Am liebsten wäre ich ihr nachgelaufen, um mich einfach wieder mit ihr zu versöhnen, aber das habe ich dann nicht getan. Ich konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, dass sie wieder vor unserem Haus steht.»
«Und danach haben Sie nichts mehr von ihr gehört?»
«Nein.» Kath warf einen Blick auf die Uhr. «Hören Sie, ich fürchte, ich muss los. Wir bekommen gleich eine Patientin aus der Notaufnahme. Ich muss mich um die Anmeldung kümmern.»
«Wissen Sie, ob sie sich bedroht gefühlt hat, in Gefahr? Hat sie sich vor irgendwem gefürchtet? Vielleicht vor dem Mann, mit dem sie zusammen war?»
«Nein, überhaupt nicht. Sie hat mir erzählt, dass er sie liebt. Ich hatte mich noch gefragt, ob das wohl stimmt. Vielleicht hat er ja Schluss mit ihr gemacht, und das hat sie so aus der Bahn geworfen. Wenn ich eine Befürchtung hatte, dann allenfalls, dass sie sich etwas antut.»
«Selbstmord, meinen Sie?»
«Ja, vielleicht.» Kath stand auf und öffnete die Bürotür. «Ich weiß, ich hätte offener sein, mich mehr darum kümmern sollen, dass es ihr gutgeht. Aber meine Familie steht für mich an erster Stelle.»
Vera fuhr nach Hause zurück, froh, die Stadt und die Ermittlungen hinter sich lassen zu können. Als sie nach Westen abbog, auf die Berge zu, nahm ihr die sinkende Sonne fast die Sicht. Zu Hause, vor dem alten Stationsvorsteherhäuschen, blieb sie einen Moment im Wagen sitzen und fühlte sich fast zu müde zum Aussteigen. Schließlich raffte sie sich doch auf, stieg aus und schloss die Haustür auf. Sie stieg über das Häufchen Post hinter der Tür, holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich damit nach draußen. Selbst jetzt, wo es langsam dunkel wurde, war es immer noch warm. Sie setzte sich auf die weiße Bank, wo früher einmal die Fahrgäste auf den kleinen Nahverkehrszug gewartet hatten, und ließ den Blick über das Tal wandern. Die ganze Landschaft lag im Schatten und schien aller Farben beraubt. Hier, dachte Vera, ließ sich endlich Ruhe finden.
Doch ihr Kopf schaffte es einfach nicht, von den Ermittlungen abzulassen. Sie fühlte sich mindestens so fiebrig und besessen wie Lily Marsh, während sie Details neu überdachte und nach Verbindungen suchte. Ich müsste das alles aufschreiben,
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