Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
Vom Netzwerk:
hörte Fetzen einer Melodie, die schon wieder verklungen war, bevor er sie einordnen konnte, dann eine Autohupe. Die Strahlen der Abendsonne spiegelten sich in all dem Glas und färbten das Wasser rot. Ob Samuel oder Clive oder Peter Calvert es wohl seltsam finden würden, Gary bei seiner eigentlichen Arbeit zu sehen, an seinem Mischpult, wo er über den Ton bestimmte, der das Publikum erreichte, und dafür sorgte, was die Zuschauer hier in diesem hell erleuchteten Bau erlebten? Sie kannten ihn doch nur als besessenen Seevögelbeobachter. Sie waren seit Jahren befreundet, und trotzdem wussten sie eigentlich kaum etwas voneinander. Seine Freunde wussten, dass er sich in Julie verliebt hatte, seinen Schwarm aus der Grundschule, in ihr Lachen und ihr Selbstbewusstsein. Aber sie konnten nicht mal ahnen, dass er auch von der halbwüchsigen Laura in ihrem kurzen schwarzen Schulrock träumte. Obwohl sie sich alle als enge Freunde betrachteten, hatte doch jeder Geheimnisse, die er nicht mit den anderen teilte.
    Garys Handy piepste. Eine SMS. Sie war von Julie, und er verspürte ein plötzliches Schuldgefühl, das richtig körperlich war. Sein Gesicht brannte, als liefe er knallrot an.
Was machst du heute noch?
Da schob er die Laura-Phantasien entschlossen beiseite und antwortete sofort.
Arbeiten. Bin nicht vor Mitternacht fertig
. Ihre Antwort ließ so lange auf sichwarten, dass er schon fast die Hoffnung aufgab. Vielleicht war ihr diese simple Feststellung ja wie eine Ausflucht vorgekommen? Er hätte sich mehr Zeit lassen sollen, sich die Formulierung besser überlegen. Unruhig überlegte er, ob er eine weitere SMS schreiben sollte. Gleich musste er reingehen und den letzten Soundcheck machen, und bei der Arbeit schaltete er das Handy immer aus. Die Antwort kam, als er sich schon vom Fluss abgewandt hatte und die Stufen halb hinauf war.
Ich hol dich ab. Bis später.

KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG 
    Wenn sie nicht bald aus dem Haus kam, würde sie losbrüllen, da war sich Julie sicher. Sie würde sich oben an die Treppe stellen, ihre Lungen mit Luft füllen, den Mund weit öffnen und so laut schreien, dass man es in der ganzen Straße hörte. Ihre Mutter war immer noch da und putzte. Den ganzen Tag summte der Staubsauger, und überall stank es nach Putzmittel und Politur, sodass Julie sich in ihrem eigenen Haus nicht mehr zu Hause fühlte. Und Mrs   Richardson putzte nicht nur, sie redete auch noch ununterbrochen und nervte Julie mit Mahnungen und Vorwürfen. Als ob sie nicht schon genug Schuldgefühle hätte. Julie war eigentlich immer besser mit ihrem Vater zurechtgekommen. Wenn er statt ihrer Mutter jetzt hier gewesen wäre, hätten sie sich zusammen besaufen können. Er hätte sich zu ihr aufs Sofa gesetzt, mit ihr Musikvideos angeschaut und ihr alte Geschichten von den Musikern erzählt, die er früher gekannt hatte. Und wenn ihr nach Heulen zumute war, hätte er sie in den Arm genommen.
    Sie konnte ihre Mutter aber auch nicht einfach wegschicken.Sie glaubte ja schließlich, dass sie sich nützlich machte. Es würde sie tief verletzen, und dann würde Julies schlechtes Gewissen nur noch größer. Also hatte sie den ganzen Tag versucht, einen Vorwand zu finden, um aus dem Haus zu kommen. Schließlich erfand sie eine Einladung von Lisa: Lisa würde kochen, und Julie würde bei ihr im Gästezimmer übernachten. Ihre Mutter mochte Lisa, die als Sekretärin in einer großen Anwaltskanzlei in der Stadt arbeitete. Und so ging Julie in den Garten hinaus und rief Lisa auf dem Handy an. Hinter der Pferdeweide wurde gemäht. Julie sah dem Traktor zu, der immer wieder hin- und herfuhr, ganz gleichmäßig, geradezu hypnotisch. Sie hätte ihm den ganzen Tag zuschauen können, aber das würde ihre Mutter natürlich niemals zulassen. Sie würde das faul und selbstsüchtig finden und Julie stattdessen irgendeine sinnvolle Aufgabe zuweisen.
    «Falls meine Mutter anruft, bin ich bei dir, aber ich bin eingeschlafen und du willst mich nicht aufwecken.»
    Lisa war eine gute Freundin, sie stellte keine weiteren Fragen. Und natürlich hätte sie auch tatsächlich für Julie gekocht, Wein mit ihr getrunken und ihr ihre Schulter zum Ausheulen angeboten. Doch Lisa lebte in einer schicken neuen Wohnung an der Promenade in Tynemouth, und Julie hatte noch nie das Gefühl gehabt, sich dort einfach gehenlassen und entspannen zu können. Sie kam sich wieder vor wie ein junges Mädchen bei all diesen Lügenmärchen, und am späten Nachmittag fühlte sie

Weitere Kostenlose Bücher