Totenblüte
sich richtig erschöpft. Doch sie war auch ein bisschen aufgeregt. Schließlich hatte sie schon die ganze Zeit gewusst, was sie eigentlich wollte: Gary sehen.
Bevor sie das Haus verließ, duschte sie in der Badewanne, in der sie Luke gefunden hatte. Früher hatten sie einen uralten Duschvorhang gehabt, der am Rand voller rötlicherSchimmelflecken gewesen war, doch den hatte die Polizei sichergestellt. Julies Mutter war ins Kaufhaus gefahren und hatte einen neuen gekauft. Den zog Julie jetzt zu und schloss dann die Augen, um sich die Haare zu waschen. Es war das erste Mal seit Lukes Tod, dass sie diese Badewanne benutzte. Vorher war sie immer zu Sal gegangen, wenn sie baden oder duschen wollte. Sie ließ sich Zeit, schminkte sich sorgfältig, legte ein bisschen Parfum auf. Das würde ihre Mutter gar nicht weiter misstrauisch machen. Sie gehörte noch zu der Generation, in der man als Frau nie aus dem Haus ging, ohne sich etwas zurechtzumachen.
Laura war in ihrem Zimmer. Da hielt sie sich in letzter Zeit ständig auf, verließ es nur noch zu den Mahlzeiten und zum Pinkeln. Julie dachte sich, dass das vor Lukes Tod auch nicht anders gewesen war. Sie klopfte, schaute durch die halbgeöffnete Tür herein. Laura lag auf dem Bett. Sie las nicht, sah auch nicht fern, sondern starrte einfach nur an die Decke.
«Alles klar bei dir, Süße?» Julie setzte sich auf den Bettrand.
Laura wandte sich ihr zu und rang sich ein halbes Lächeln ab. Julie dachte sich, dass sie lieber zu Hause bleiben sollte. Sie dachte an Luke, als er anfing, seine Depressionen zu bekommen. Aber dann konnte sie sich doch nicht dazu durchringen. Wenn sie nicht ein bisschen aus dem Haus kam, würde sie irgendwann selber durchdrehen.
«Ich wollte heute Abend weggehen. Lisa hat mich zu sich eingeladen. Ist das okay für dich?»
Laura musterte sie einen Augenblick lang unverwandt, dann zuckte sie die Achseln. «Klar.»
Und Julie dachte sich, dass sie niemals wissen würde, was in Lauras Kopf vorging, und das eigentlich auch nie gewusst hatte.
«Eventuell bleibe ich über Nacht. Aber Oma ist ja hier.»
«Kein Problem. Ehrlich.»
Julie stieg in den alten Fiat, den sie sich zugelegt hatte, nachdem Geoff gegangen war, und der inzwischen nur noch von Lack und Spachtelmasse zusammengehalten wurde. Jedes Jahr war es wieder dasselbe Drama, wenn die technische Sicherheitsprüfung anstand, aber der Sohn ihrer Freundin Jan war Automechaniker und hatte den Wagen bisher mit seinen Zauberkünsten immer wieder einigermaßen hinbekommen. Seit Lukes Tod war sie nicht mehr gefahren. Wieder ein erstes Mal. Sie stellte sich vor, wie die Nachbarn hinter den Vorhängen hervorspähten und darauf warteten, dass sie losfuhr. Was sie sich wohl dachten? Würden sie sie als herzloses Miststück abtun oder ihren Mut bewundern, weil sie ihr Leben wieder in die Hand nahm? Sie wusste ja selbst nicht, was sie von sich dachte.
Es war noch nicht einmal acht Uhr, trotzdem fuhr sie auf direktem Weg in die Stadt. Als sie beim alten Kreisverkehr auf die Autobahn abbog, geriet sie wie immer kurz in Panik. Sie wusste nie genau, welche Abzweigung sie nehmen musste, um zur Brücke zu kommen. In Gateshead verpasste sie die Ausfahrt zum Sage und landete stattdessen auf dem Parkplatz der Baltic Gallery. Weil es ihr zu viel war, noch einmal umzukehren, blieb sie, wo sie war. Gut zwanzig Minuten lang saß sie einfach nur im Wagen, ohne einen klaren Gedanken im Kopf, dann holte sie sich einen Parkschein am Automaten. Neun Uhr. Es wurde langsam dunkel, und Julie merkte, dass sie es genoss, allein zu sein.
Sie stieg aus dem Wagen und ging um die Baltic Gallery herum nach vorn. In der Bar im Souterrain fand offenbar irgendein Empfang statt. Durch die hohen Fenstersah sie Frauen im Abendkleid, Männer im Smoking. Sie tranken Champagner aus schmalen, hohen Gläsern. Eine füllige Frau mit auffallend kurzem Haar hielt eine Rede. Julie hatte das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, umgeben von exotischen Geschöpfen, die ganz anders waren als sie. Spontan beschloss sie, die neue Millennium-Brücke von Gateshead nach Newcastle zu überqueren. Das hatte sie noch nie gemacht. In der Mitte blieb sie stehen und schaute flussaufwärts zu den Bogen und Türmchen der übrigen Brücken, der Tyne Bridge, der High Level Bridge, der Redheugh Bridge – all das war ihr vertraut, erschien ihr nun aber in völlig neuem Licht. An der Quayside in Newcastle drängelte sie sich durch die Menge hindurch in eine Kneipe,
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