Totenblüte
forensischen Untersuchungen zurückzukehren, eine Wirklichkeit, in der zumindest meistens der gesunde Menschenverstand zählte. Doch da Joe sie beobachtete, blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterzulesen. Und schließlich kam sie zum unvermeidlichen Ende. Die junge Frau wurde erdrosselt. Parr beschrieb den Akt des Mordens wie eine Umarmung, eine zärtliche Berührung. Der Mörder blieb weiterhin gesichtslos, seine Beziehung zu dem Opfer ungeklärt. Im letzten Absatz lag die Tote in einem Teich, umgeben von Seerosen.
«Also?», fragte Ashworth. «Was glauben Sie? Eigentlich muss es doch Parr gewesen sein.»
Vera gab keine Antwort. «Ich weiß, wo die Geschichte spielt», sagte sie. «Ich war da schon.»
Ihr Vater Hector war Mitglied des Komitees gewesen, das seinerzeit die Beobachtungsstation in Deepden gegründet hatte. Vera hatte keine Ahnung, wessen Schnapsidee es gewesen war, ihn dazuzubitten. Und natürlich war sein Flirt mit dem populäreren Zweig der Vogelbeobachtung auch nicht von Dauer gewesen. Hector war einfach ein Einzelgänger, er kam nicht mit den anderen Komitee-Mitgliedern zurecht und ertrug auch die endlosen, öden Besprechungen über Drittmittelbeschaffung und die Organisationsstruktur der Beobachtungsstation nicht. Außerdem galt seine Begeisterung vor allem den illegalen Aktivitäten rund um seine eigentliche Leidenschaft: Er wollte nächtliche Streifzüge durch die Berge unternehmen, nach Raubvogeleiern suchen, Tiere am Küchentisch ausstopfen. Das wenig abenteuerliche, wissenschaftliche Studium der Zugvögel interessierte ihn im Grunde nicht. Und so hatte er schon nach einem halben Jahr ein ätzendes und beleidigendes Rücktrittsschreiben verfasst.
Trotzdem hatte man ihn später dann zu dem Fest eingeladen, mit dem das zehnjährige Bestehen der Beobachtungsstation gefeiert wurde. Vera vermutete ein Versehen dahinter. Wahrscheinlich stand er auf irgendeiner Liste, und keiner der Entscheidungsträger hatte sich die Mühe gemacht, die Namen durchzugehen. Der Vorstand hätte ihn sonst ganz sicher nicht dabeihaben wollen. Damals wusste schließlich bereits die ganze Vogel-Szene Northumberlands von seinen Verstößen. Es hatte ihn zwar nie jemand angezeigt, doch die Gerüchte über seine Eiersammlung kursierten schon seit Jahren in dem kleinen Zirkel, und wenn er betrunken war, prahlte er auch selber damit. Dann erklärte er, die beste Amateursammlung von Raubvogeleiern im ganzen Land zu haben. Wenn nicht sogar die beste der ganzen Welt.
Hector war natürlich ganz aus dem Häuschen gewesen, als er die Einladung bekam, und hatte sofort beschlossen hinzugehen. Und Vera hatte gar nicht erst versucht, ihn davon abzubringen. Er war immer schon ein alter Sturkopf gewesen und genoss es einfach, unangenehm aufzufallen. Damals war er bereits schwerer Alkoholiker, und so war Vera als eine Art Kindermädchen mitgekommen, um die schlimmsten Szenen zu verhindern und ihn hinterher wieder nach Hause zu fahren. Es war um dieselbe Jahreszeit gewesen, ein trockener, windstiller Mittsommerabend. Vermutlich waren damals unter den Anwesenden auch einige der vier verdächtigen Vogelfreunde gewesen.
Im Gedächtnis geblieben war ihr vor allem der Ort selbst. Der Garten war prächtig gewesen, üppig und grün, eine Oase inmitten der ausgetrockneten Ebene ringsum. Es gab eine Führung durch den Beringungsschuppen, die Fangnetzstationen und den Garten mit den Obstbäumen. Anschließend postierte Vera sich am Rand des Teichs undbehielt Hector im Auge, um jederzeit eingreifen zu können, falls er ausfallend wurde. Doch er war an dem Abend ganz brav. Ein bisschen laut vielleicht, aber insgesamt recht unterhaltsam und umgänglich. Je weiter der Abend fortschritt, desto lockerer wurde sie. Irgendwann hatte ihr die Veranstaltung sogar Spaß gemacht.
All das erzählte sie Ashworth jedoch nicht. «Ganz sicher bin ich natürlich nicht», sagte sie. «Aber ich würde doch vermuten, dass es Deepden sein muss. Das ist nicht weit von dem Leuchtturm, wo die junge Frau gefunden wurde, und nur einen Katzensprung von Seaton, wo die Familie Armstrong wohnt.»
«Worauf warten wir dann noch? Wenn Parr mit dem Mädchen dort ist, müssen wir auch Verstärkung anfordern. Soll ich mich darum kümmern?» Die Sorge um seine Frau war offenbar vergessen. Eine triumphale Festnahme wollte Ashworth dann doch nicht verpassen.
«Wir sollten es einstweilen nicht übertreiben. Wir müssen vorsichtig sein. Wenn er mitbekommt, dass wir ihm auf den
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