Totenblüte
gegebenenfalls einem Auto ausweichen zu können, das von der Hauptstraße abbog, musste sie erneut an ihren Vater denken. Bis sie alt genug war, sich zu weigern, hatte er sie immer auf seine Raubzüge mitgenommen. Sie hatte sich in Gräben verstecken müssen, hinter Büschen und Trockenmauern, und für ihn nach Polizisten oder Aufsehern des Vogelschutzbunds Ausschau gehalten. Ihr war das Ganze in jedem einzelnen Augenblick zuwider gewesen. Das Gefühl von Panik, diese Angst, verhaftet und eingesperrt zu werden, irgendetwas falsch zu machen. Was hätte sie denn tun sollen, wenn tatsächlich jemand gekommen wäre? Doch es war auch aufregend gewesen. Vielleicht, dachte sie, bin ich ja deshalb Polizistin geworden. Ich war einfach schon als Kind adrenalinsüchtig.
Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sie sah das Tor mit den fünf Querstreben, das in den Garten führte, bereits, bevor sie es erreichte, und erkannte dahinter den mattschwarzen Schatten des Hauses. Ein Auto war nicht zu sehen. Zumindest nicht hier auf der Straße. Möglicherweise war es ja in die Einfahrt gefahren worden und stand hinter Bäumen und Brombeersträuchern verborgen. Das konnte Vera von hier aus nicht erkennen. Sie ging noch ein Stück weiter die Straße entlang, um einen besseren Blick auf die Vorderseite des Hauses zu bekommen, wo die Fenster waren. Ob er wohl das Risiko eingehen würde, Licht zu machen? Ob er überhaupt hier war?
Anfangs sah sie nichts, dann flackerte ganz kurz ein Lichtschein auf. Als wäre ein Streichholz angezündet odereine Taschenlampe ein- und wieder ausgeschaltet worden. So kurz, dass Vera es sich möglicherweise nur eingebildet hatte. Aber dafür war sie eigentlich nicht phantasievoll genug. Vielleicht hatte Joe ja doch recht. Vielleicht war Parr tatsächlich hier. Vera stellte sich Joes Triumph vor, wenn sie ihm erzählte, dass wirklich jemand im Bungalow war. Sie gab sich kurz einem schönen Gedanken hin: Sie stand in Julies Küche, den Arm um Laura gelegt.
Hier bringe ich Ihnen Ihr Kind zurück, Herzchen
. Und obwohl nichts darauf hindeutete, dass Laura überhaupt noch lebte, wünschte Vera sich diesen Moment so sehr herbei, dass sich etwas in ihrer Brust schmerzhaft zusammenzog.
Sie drehte sich um, ging zurück zum Wagen und öffnete die Fahrertür. Als sie sie gerade wieder geschlossen hatte, klingelte Ashworths Handy. Vera erschrak, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Ashworth nahm das Gespräch gleich nach dem ersten Klingeln an. «Ja?» Nach der Stille draußen klang selbst sein Flüstern ohrenbetäubend. Dann spürte Vera, wie seine Anspannung nachließ, und war sich sicher, dass nicht seine Frau am anderen Ende war. Die saß wahrscheinlich immer noch mit einer heißen Schokolade zu Hause. Noch musste er nicht zu ihr zurückeilen, um bei der Geburt dabei sein zu können. «Charlie ist dran», sagte Ashworth. «Er will Sie sprechen.»
Sie nahm ihm das Handy ab. «Und, Charlie? Was haben Sie für mich?»
«Ich habe Parr gefunden.»
«Wo war er?»
«Gleich dort, wo Sie meinten. Auf dem Friedhof. Am Grab seiner Frau. Heute ist es genau zwanzig Jahre her, dass sie sich umgebracht hat. Er saß dort im Gras, als ich ankam. Sah aus, als hätte er geheult.»
«Haben Sie seine Autoreifen mit dem Abdruck von der Straße in Seaton vergleichen lassen?»
«Ja, und die stimmen nicht überein», sagte Charlie. «Er fährt einen ganz neuen Wagen. Billy Wainwright sagte doch, der Abrieb an dem Reifen, von dem die Spur stammt, ist fast nicht mehr zulässig. Außerdem scheint mir Parr auch nicht in der Verfassung zu sein, ein Mädchen zu entführen. Für mich hat sich das eher so angehört, als hätte er seit dem frühen Morgen auf dem Friedhof gehockt. Er gibt es zwar nicht zu, aber ich würde mal tippen, die Leiche beim Leuchtturm hat die Erinnerungen wieder hochkommen lassen. Er hat es ja kaum geschafft, sich zusammenzureißen, als ich ihn auf dem Friedhof gefunden habe. Ich habe ihn nach Laura Armstrong gefragt, ob er wüsste, was da passiert ist, aber er schien nicht einmal zu kapieren, wovon ich rede. Er hat die ganze Zeit nur wiederholt, dass er seine Frau im Stich gelassen hat. Ich habe ihn nach Hause gebracht. Keine Spur von dem Mädchen.»
«Danke, Charlie.» Vera gab Joe Ashworth das Handy zurück. «Sie haben Samuel Parr ausfindig gemacht. Er hat nichts mit Lauras Entführung zu tun.»
«Na, dann war’s das ja wohl. Fahren wir zurück nach Kimmerston.» Vera konnte nicht recht sagen, ob
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