Totenblüte
gemacht. Der blieb jetzt einen Augenblick stehen, wog den Schlüsselbund in der Hand und nickte dann vage in ihre Richtung, ohne sie dabei anzusehen oder etwas zu ihr zu sagen. Vera spürte, dass ihm dieser Eingriff in seinen Tagesablauf gar nicht passte, weil er den Insassen aus seiner Zelle holen und aus dem Gefängnistrakt hierherbringen musste, während seine Kumpels, die anderen Wärter, im Büro saßen, gemütlich Tee tranken und sich Witze erzählten. Er ging wieder nach draußen, setzte sich auf einen Stuhl und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Vera stand auf, um die Tür zu schließen, nahm dabei den Geruch verschwitzter Körper wahr und hoffte sehr, dass Davy so stank und nicht sie. Sie zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und bot ihm eine an. Davy schob die Zigarette rasch zwischen die Lippen, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug.
«Sie wissen sicher, warum ich hier bin», sagte Vera. Heutzutage gab es in allen Zellen Fernseher, er würde es also in den Nachrichten gesehen haben, selbst wenn er wider Erwarten nicht über andere Kanäle von Lukes Tod erfahren hatte.
«Wegen dem Jungen, der mit unserem Thomas befreundet war?»
Vera schwieg und versuchte, nicht an das Pintglas zu denken.
Davy beugte sich vor. Die Zigarette hatte er schon halb aufgeraucht und schnippte die Asche in den Alu-Aschenbecher. Davy Sharp war ein magerer, unscheinbarer Mann. Wenn man ihm auf der Straße begegnete, ging man ohneeinen weiteren Blick an ihm vorbei. Das war sein großer Vorteil. Er stammte aus einer Familie, der Diebstahl zur zweiten Natur geworden war. Sie waren berüchtigt. Wenn sich die Kinder in North Shields schlecht benahmen, sagten ihre Mütter zu ihnen: «Mach nur so weiter, dann endest du noch wie die Sharps.» Davy hatte sich auf Kreditkartenbetrug spezialisiert, da kam es ihm gelegen, dass sich kein Mensch an sein Gesicht erinnern konnte. Vera war nie in der Lage gewesen, ihn einzuschätzen. Andererseits war er in seinem Metier offensichtlich trotzdem nicht besonders gut, schließlich hatte er ein Drittel seines Erwachsenenlebens im Gefängnis zugebracht. Vielleicht fühlte er sich hier ja einfach wohler als draußen.
Jetzt sah er sie mit zu Schlitzen verengten Augen an. «Glauben Sie etwa, wir haben was damit zu tun?»
«Luke gab sich die Schuld am Tod Ihres Jungen. Ich habe mich gefragt, ob Sie ihn vielleicht auf die Idee gebracht haben könnten.»
«Es war ein Unfall.» Davy Sharp drückte die Zigarette aus. Vera sah seine Hand dabei zittern und fragte sich, ob das wohl auch zur Rolle gehörte. Sie schob ihm das Zigarettenpäckchen über den Tisch und wartete, bis er sich eine weitere herausgenommen hatte.
«Kannten Sie Luke?»
«Ich habe ihn erst nach Thomas’ Tod kennengelernt.» Er grinste verhalten. «Ich war in letzter Zeit ja nicht so viel zu Hause. Zur Beerdigung haben sie mich aber gehen lassen, und da habe ich den kleinen Armstrong kennengelernt. Aber Thomas hat immer viel von ihm geredet, wenn er mich hier drinnen besucht hat. Schienen richtig gute Freunde zu sein. Anscheinend hatten sie sich gesucht und gefunden. Luke war ja auch nicht gerade der Hellste, nach allem, was meine Frau so erzählt hat. Aber wir waren froh,dass Thomas sich mit dem Armstrong-Jungen angefreundet hat. Wir wollten nicht, dass er so endet wie ich. Er hätte das nicht gekonnt, und hier drinnen hätte er keine paar Tage überlebt.»
«Haben Sie bei der Beerdigung mit Luke gesprochen?»
«Klar. Aber nur ganz kurz. Ich durfte hinterher ja nicht mal auf ein Bier bleiben.»
«Was hat er denn gesagt?»
«Dass es ihm leidtut. Dass er alles versucht hat, um Thomas zu retten. Man hat ihm angemerkt, dass er das ernst meint. Er war völlig fertig. Die ganze Messe über hat er geheult wie ein Schlosshund, und auch als ich mit ihm reden wollte, hat er kaum ein Wort rausgekriegt.»
«War seine Mutter auch da?»
«So eine üppige Blonde? Ja. Von ihr hat Thomas auch immer viel erzählt, wie nett sie zu ihm war. Da habe ich mich dann bei ihr bedankt.»
«Und als Thomas starb, saßen Sie gerade ein?»
«In Untersuchungshaft.»
«Aber Sie haben doch bestimmt versucht herauszufinden, was passiert ist?»
«Ich hab mit ein paar Leuten geredet, ja.»
«Und?»
«Da habt ihr Bullen mal keinen Mist gebaut. Die Burschen waren betrunken, sie haben rumgepöbelt, und dabei ist Thomas ins Wasser gefallen. Wie gesagt, es war ein Unfall.» Er schwieg einen Augenblick. «Ich würd mir ja sogar wünschen, es hätte einen
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