Totenblüte
Schuldigen gegeben. Aber es gab keinen.»
«Hatte Thomas noch weitere Freunde?»
«Keine richtigen. Früher gab’s noch ein paar Kinder, mit denen er gespielt hat, und einen älteren Jungen aus unserer Straße, der sich um ihn gekümmert hat. Aber um dieZeit, als er gestorben ist, war Luke Armstrong sein einziger Freund.»
Einen Moment lang saßen sie beide schweigend da. Der Wärter draußen rutschte auf seinem unbequemen Stuhl herum. Sie hörten die Schlüssel an seinem Gürtel rasseln.
Schließlich fragte Sharp: «War’s das?»
«Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, wer Luke Armstrong tot sehen wollte?»
Er schüttelte den Kopf. «Ich kenn keinen, der so einen Jungen erwürgen würde.» Vera wusste zwar, dass das nicht stimmen konnte, ließ es ihm aber durchgehen.
«Er hat also nicht für Sie gearbeitet? Ich meine, Sie haben den Jungs nie irgendwelche Aufträge gegeben?» Sie dachte an einfache Aufgaben, Botendienste für ein paar Pfund.
«Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich Luke Armstrong zum ersten Mal bei der Beerdigung meines Sohnes gesehen habe. Und Thomas wollte ich gar nicht erst mit der Branche in Kontakt bringen. Außerdem hätte ich das keinem von den beiden zugetraut. Von denen hätte ich mir nicht mal ’ne Tüte Fritten holen lassen. Viel zu unzuverlässig.»
«Aber es ist doch ein seltsamer Zufall. Alle beide tot. Sie halten es also nicht für möglich, dass irgendwer versucht, Ihnen was zu sagen?»
«Es gibt eben Zufälle», erwiderte er mürrisch.
Vera musterte ihn eingehend und versuchte herauszufinden, ob sich irgendeine Bedeutung hinter diesen Worten verbarg, doch seine Miene blieb völlig unbewegt.
«Sie könnten doch mal herumfragen», sagte sie. «Die Szene wissen lassen, dass Sie sich dafür interessieren.»
Erst war es, als hätte sie gar nichts gesagt. Er starrte einfach weiter vor sich hin. Doch dann nickte er fast unmerklich. «Mach ich.»
«Und falls Sie etwas hören, sagen Sie mir dann Bescheid?»
Er nickte wieder.
Vera hatte das ungute Gefühl, etwas zu vergessen; es schien noch eine Frage zu geben, die sie eigentlich stellen sollte. Einen Moment lang blieben sie einfach sitzen und sahen einander an. Vera überlegte, ob sie die Blumen erwähnen sollte, die in der Badewanne schwammen, als Lukes Leiche gefunden wurde – vielleicht hatte das ja eine Bedeutung für ihn? Andererseits war es ihnen bisher gelungen, dieses Detail aus der Berichterstattung herauszuhalten, und sie wollte auch weiterhin vermeiden, dass die Öffentlichkeit davon erfuhr. So schob sie ihm schließlich ohne ein weiteres Wort wieder das Päckchen Zigaretten hin. Sie wartete, bis er es in die Tasche seiner Jeans geschoben hatte, dann öffnete sie die Tür und rief dem Wärter zu: «Wir wären dann fertig hier.»
Als sie vor dem Tor darauf wartete, hinausgelassen zu werden, versuchte sie, sich Sharps Gesicht noch einmal zu vergegenwärtigen, einen Ausdruck darin zu finden, den sie hätte entschlüsseln sollen, eine Botschaft, die er ihr vielleicht übermitteln wollte. Doch es gelang ihr nicht. Sie konnte sich nur ganz verschwommen an seine Züge erinnern. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie ihn bei einer Gegenüberstellung erkannt hätte.
Ihr Handy hatte sie ausgeschaltet, ehe sie es beim Pförtner deponiert hatte. Auf dem Weg zum Wagen schaltete sie es wieder ein. Keine neuen Nachrichten, keine verpassten Anrufe. Seit der Nacht, in der Luke gestorben war, waren sie keinen Schritt weitergekommen. Vera hatte im Schatten geparkt, und die Sonne stand inzwischen tiefer. Sie schaltete die Klimaanlage ein und öffnete alle Fenster.
Je weiter sie sich von der Küste entfernte, desto wenigerVerkehr war auf der Straße, und als sie in die Berge hinauffuhr, spürte sie, wie sich ihre Laune besserte. Zu Hause wartete ein Kühlschrank voller Bier, und morgen würde sie sich frisch und ausgeruht den weiteren Ermittlungen widmen.
Das Handy klingelte, als sie gerade vor dem alten Stationsvorsteherhaus hielt. Beim ersten Mal hatte sie es gar nicht gehört, weil gerade der Zug Richtung Edinburgh vorbeidonnerte. Kein Great-North-Eastern-Zug, sondern einer von Virgin. Ein roter Blitz. Als der Zug vorbei war, klingelte ihr Handy wieder.
KAPITEL ZEHN
James spielte für sein Leben gern Schach. Clive, einer von Peters Freunden, hatte es ihm beigebracht, und seither war der Kleine hellauf begeistert davon, vielleicht, weil er es für eine echte Erwachsenenbeschäftigung hielt. Da kam er sich gleich
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