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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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eines Menschen zu überlassen, der wusste, was er tat.
    Sie stellte ihm ein paar schüchterne Fragen nach seiner Arbeit, und er antwortete mit so viel Begeisterung und Elan, dass sie völlig fasziniert war, obwohl sie im Grunde kein Wort verstand. Sie gingen hinaus in die Diele, wo die Musik nicht ganz so laut war, und setzten sich auf die Treppe. Nebeneinander konnten sie nicht sitzen, weil sie ja Platz für die Gäste lassen mussten, die sich schwankend in Richtung Bad bewegten, und so setzte Peter sich auf die oberste Stufe, und Felicity saß zu seinen Füßen.
    Das Gespräch war keineswegs einseitig. Er fragte auch nach ihr und hörte aufmerksam zu, als sie von ihrem Zuhause und ihren Eltern erzählte. «Ich bin ein Einzelkind. Ich glaube, ich bin sehr behütet aufgewachsen.»
    «Dann muss das alles hier ja ein richtiger Schock für dich sein», bemerkte er. «Das Studentenleben, meine ich.» Und Felicity brachte es nicht über sich, ihm zu sagen, dass sie den Lärm, das Chaos und die Freiheiten des Lebens an der Universität eigentlich genoss. Offenbar gefiel ihm die Vorstellung, ein verwundbares Geschöpf vor sich zuhaben, und es erschien ihr herzlos, ihm zu widersprechen. Sogar für ihren Glauben brachte er Verständnis auf, als fände er das bei jemandem mit ihrem Erfahrungshorizont ganz natürlich, als wäre sie eine Sechsjährige, die ihm gerade anvertraut hatte, dass sie noch an die Zahnfee glaubt. «Ich muss ja auch zugeben, dass sich nicht alles wissenschaftlich erklären lässt», sagte er. Und dann hatte er sie zum ersten Mal berührt, strich ihr übers Haar, wie um ihr zu beweisen, dass er das keineswegs lächerlich fand. Oder allenfalls ein bisschen. Und sie war ihm dankbar für sein Verständnis.
    Sie gingen, als die Party noch in vollem Gange war. Peter bot ihr an, sie zu ihrem Studentenwohnheim zurückzubegleiten. Sie fuhren mit dem Bus in die Stadt zurück und spazierten über das Town Moor. Es war bitterkalt; ringsum glitzerte es weiß und silbrig, in allen Senken sammelte sich Nebel, und auch ihr Atem bildete kleine Nebelwölkchen. Am Himmel hing ein dicker weißer Mond. «Wie schwer er aussieht», sagte Felicity. «Als würde er gleich auf die Erde stürzen.»
    Eigentlich hatte sie schon mit einem kleinen Vortrag über die Schwerkraft und die Planeten gerechnet, doch stattdessen blieb Peter stehen, wandte sich ihr zu und umschloss ihr Gesicht mit den behandschuhten Händen. «Du bist wunderbar», sagte er. «Ich habe noch nie jemanden wie dich getroffen.»
    Erst später wurde ihr klar, wie recht er damit hatte. Er war auf einer Jungenschule gewesen und von dort direkt auf die Universität gewechselt, wo er sich dann voll und ganz seiner wissenschaftlichen Arbeit widmete. Vielleicht hatte er ja von Frauen geträumt, vielleicht hatten diese Träume ihn auch gequält, wenn sie alle sechs Minuten in sein Bewusstsein drangen. Und ganz sicher hatte er aucherotische Abenteuer gehabt. Aber er hatte sich nie erlaubt, sich ernsthaft ablenken zu lassen. Bis jetzt. Als sie weitergingen, legte er ihr den Arm um die Schultern.
    Vor ihrem Wohnheim zog er sie an sich, küsste sie und strich ihr dabei wieder durchs Haar, doch diesmal nicht sanft, sondern mit einer heftigen, rubbelnden Bewegung, die ihr zeigte, wie viel sich in ihm angestaut haben musste. Diese Geste blieb die einzige Ausdrucksform, die er seinem Begehren gestattete. Und Felicity spürte die unterdrückte Leidenschaft, die in ihm knisterte und zuckte wie kleine Stromschläge.
    «Wollen wir uns zum Mittagessen treffen?», fragte er. «Gleich morgen?»
    Und als sie ja sagte, hatte plötzlich sie das Gefühl, die Zügel in der Hand zu halten. Sie hatte die Macht.
    Als er ging, trat eine Kommilitonin aus der Tür. «Wer war das denn?»
    «Peter Calvert.»
    Die Kommilitonin war beeindruckt. «Von dem habe ich schon gehört. Er soll brillant sein. Ein Genie geradezu.»
    Am nächsten Tag führte Peter sie nach Tynemouth zum Essen aus, sie fuhren mit dem Auto hin. Felicity hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie in der Stadt essen würden, irgendwo in der Nähe der Universität. Das Auto und das Restaurant, das zu einem Hotel gehörte und von Geschäftsleuten bevölkert war, zeigten wieder, wie sehr Peter sich von Felicitys Unifreunden unterschied. Es brauchte gar nicht viel, um sie zu beeindrucken. Nach dem Essen stiegen sie den Hang bis zum alten Kloster hinauf und schauten über den Fluss hinweg nach South Shields. Sie gingen am Ufer des Tyne

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