Totenblüte
Stunde?»
«Gut, dann komme ich hin.»
An die Motorhaube ihres Wagens gelehnt, blieb sie stehen und lauschte den Wellen, die sich unten am Ausguck brachen, bis ihr Kollege losgefahren war.
Sie dachte nochmal an die kleine Gesellschaft vor dem eigentümlichen weißen Haus zurück, das so gar nicht in die Landschaft Northumberlands passen wollte. Eigentlich hatte sie dort nur vorbeigeschaut, um etwas zu tun zu haben, während das Spurensicherungsteam am Tatort beschäftigt war. Sie hatten die Leiche gefunden, sie würden den Abend miteinander verbringen und danach zurück nach Hause fahren, das hatte der Beamte, der als Erster am Tatort eingetroffen war, bereits herausgefunden. Vera wollte die Gelegenheit nutzen, solange sie noch alle vor Ort waren, und sie fragen, ob ihnen etwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Insgeheim hatte sie wohl darauf gehofft, von einem Wagen zu hören, dessen Beschreibung auf den passte, den Julie in der Nacht von Lukes Ermordung bei sich in der Straße gesehen hatte. Doch dann hatte die Gesellschaft selbst ihr Interesse geweckt. Nicht nur, weil eine Verbindung zu der jungen Ermordeten bestand. Und auch nicht, weil die Männer sie an ihren Vater erinnerten, der mit ein paar Kumpels zu Hause in der Küche hockte, nachdem sie wieder einmal unerlaubt die Greifvogelnester in den Bergen geplündert hatten. Es war etwas anderes. Diese Leute strahlten eine gewisse Selbstgefälligkeit aus, die sie ärgerte und einer Herausforderung gleichkam. Sie versuchte zu ergründen, wer und was genau sie so seltsam berührt hatte, kam aber nicht darauf. Schließlich stieg sie in den Wagen und fuhr über den Zufahrtsweg zurück zur Straße, Wainwright hinterher.
John Keating, der Gerichtsmediziner, war ein Nordire Mitte fünfzig, dessen schroffe, unverblümte Art Veras jüngereMitarbeiter in Angst und Schrecken versetzte. Vera selbst hatte nur einmal erlebt, dass er während einer Obduktion eine Gefühlsregung zeigte, und das war, als sie den Tod eines dreijährigen Kindes aufklären mussten. Sonst wurde er nur emotional, wenn er mit dem walisischen Sergeant über ein Rugby-Match diskutierte. Als junger Mann hatte er selbst gespielt, wovon eine gebrochene und schief zusammengewachsene Nase bis heute zeugte. Bevor er sich für die Autopsie umzog, servierte er Vera einen Kaffee in seinem Büro.
«Was war Ihr erster Eindruck?»
«Sie wurde erwürgt», antwortete Keating. «Aber darauf sind Sie wahrscheinlich selber schon gekommen.»
«Irgendwelche Ähnlichkeiten mit dem Fall Armstrong?»
«Ich konnte sie vor Ort eigentlich gar nicht richtig untersuchen. Das sind für uns die denkbar schlechtesten Bedingungen, dort am Tatort. Ein paar Stunden später wäre die Leiche aufs Meer hinausgetrieben.»
«Dann hätten wir die Blumen nicht gesehen und keinerlei Verbindung zu dem Fall in Seaton hergestellt.» Vera wurde daraus nicht schlau. «Wollte der Mörder das? War es ein Privatritual? Oder hat er darauf gesetzt, dass die Leiche rechtzeitig entdeckt wird?»
«Also, so was dürfen Sie mich nun wirklich nicht fragen. Ich befasse mich mit Toten, nicht mit den Gehirnwindungen der Lebenden.»
Vera sah sich die Obduktion hinter der Glaswand an – nicht weil sie zimperlich gewesen wäre, sondern weil sie sich ihres Körperumfangs sehr wohl bewusst war und ständig fürchtete, im Weg zu stehen. Den Stahltisch umringten auch so schon genügend Leute: die Laboranten, der Fotograf, Billy Wainwright.
Sie befreiten die Leiche aus dem Plastiksack und begannendann, begleitet vom Blitzlicht des Fotografen, Lily Marsh zu entkleiden. Sie zogen ihr den blauen Baumwollrock und das bestickte weiße Oberteil aus. Vera sah, dass sie ein weißes Höschen mit passendem BH trug. Weiß, aber keineswegs unschuldig. Der Spitzen-BH war tief ausgeschnitten und enthüllte mehr, als er verbarg, das Höschen hatte an beiden Seiten kleine rote Seidenschleifen und einen Einsatz aus roter Seide im Schritt. Während Billy Wainwright jedes Kleidungsstück einzeln in einem Klarsichtbeutel verstaute, kommentierte Keating den Vorgang und warf hin und wieder einen Blick zu Vera hinüber, um sicher zu sein, dass sie auch hörte, was er sagte. «Die Kleidung wirkt praktisch unversehrt. Keine offensichtlichen Anzeichen für ein Sexualdelikt.»
Es sei denn, dachte Vera, er hat sie erst hinterher angezogen. Warten wir den Vaginalabstrich ab, bevor wir voreilige Schlüsse ziehen. Allerdings hatte es auch bei Luke keine Hinweise auf ein Sexualdelikt
Weitere Kostenlose Bücher