Totenblüte
umgedrehten Kiste hocken und vor sich hin starren.
«Seine Nerven machen ihm schon immer sehr zu schaffen», erklärte Phyllis, und Vera glaubte, eine Spur von Vorwurf herauszuhören. Gerade jetzt, wo sie seine Unterstützung so dringend brauchte, verlor Phyllis’ Mann die Nerven und stellte auch noch Ansprüche an sie.
Sie saßen zu dritt da, die Teetassen auf dem Schoß. Phyllis entschuldigte sich, weil sie den Zucker vergessen hatte, und sprang noch einmal auf, um ihn aus der Küche zu holen, obwohl niemand welchen nehmen wollte. Sie war eine zierliche, lebhafte Frau Ende sechzig und trug das weiße Haar in einer akkuraten Dauerwelle. «Meine größte Sorge war immer, dass einer von uns sterben könnte, ehe Lily alt genug ist, für sich selber zu sorgen», sagte sie. «Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, dass sie vor uns gehen würde.» Es war, als müsste sie über Lilys Tod reden, weil sie es sonst nicht glauben konnte.
Im Zimmer hing und stand alles voll mit Erinnerungsstücken an die Tochter. Immer wieder wies Phyllis auf irgendetwas hin. Die Ballett- und Stepptanz-Diplome, die Zertifikate aus der Klavierschule. «Sie stand kurz vor der Meisterklasse, hat dann aber aufgehört, weil sie zu viel für die Schule tun musste. Trotzdem hat sie immer noch sehr gut gespielt. Eigentlich wollte sie auch wieder damit anfangen. Sie meinte, das sei sehr sinnvoll für den Schulunterricht.» Auf dem Kaminsims, auf den Fensterbänken, aufdem Klavier, überall standen Fotos. Lily mit fünf oder sechs bei einem Geburtstagsfest, strahlend vor einem Kuchen in Igelform. Die alljährlichen offiziellen Schulfotos. Mit vierzehn war Lily bereits so hübsch, dass sie sicher einiges Aufsehen erregt haben musste, sogar ungeschminkt und mit Schulpullover. Das war immerhin eine Gemeinsamkeit mit Luke Armstrong. Sie waren beide auffallend attraktiv gewesen. Vera versuchte, aus all dem Gerede einen Hinweis herauszuhören, der ihr half, eine weitere Verbindung zwischen den beiden herzustellen. Dann fiel ihr Blick auf das vergrößerte, gerahmte Foto, das an der Wand hing: Lily bei der Abschlussfeier, mit geliehenem Talar und Barett. Sie hatte den Kopf zurückgelegt und strahlte übers ganze Gesicht.
«Da scheint sie ja einigen Spaß zu haben», bemerkte Vera. «Mochte sie das Studentenleben?»
«Und wie», sagte Phyllis. «Sie hat es richtig genossen. Ich habe mich so für sie gefreut. Natürlich fiel es mir sehr schwer, sie gehen zu lassen. Ich habe sie fürchterlich vermisst. Aber wir hatten ihr hier ja nicht viel zu bieten. Keine Geschwister, und auch sonst kaum noch junge Leute im Dorf. Und dann auch noch ihr Vater mit seinen Launen … Er wollte, dass sie weiter hier zu Hause wohnt und jeden Tag mit dem Bus in die Stadt fährt, aber mir war gleich klar, dass das nicht gehen würde. ‹Sei froh, dass sie nicht nach Kent oder Exeter gegangen ist›, habe ich zu ihm gesagt. Die hatte sie nämlich auch als Studienorte auf der Liste. ‹Es wird höchste Zeit, dass wir ihr ein bisschen mehr Freiheit lassen.› Und das hat er dann irgendwann auch eingesehen.»
«Hat sie während des Studiums gejobbt?», fragte Vera. «Das machen heutzutage ja die meisten Studenten.»
«In den Ferien hat sie immer gearbeitet, und auch währendder Vorlesungszeit am Samstag. Nach dem ersten Jahr im Studentenwohnheim hat sie sich in der Stadt eine Wohnung genommen, zusammen mit zwei anderen jungen Frauen. In West Jesmond. Eine sehr hübsche Wohnung. Mir war nicht ganz klar, wie sie sich das leisten konnte, aber offenbar gehörte die Wohnung dem Vater eines der Mädchen. Er hat sie als Geldanlage gekauft und sie den dreien vermietet. Wir haben sie natürlich unterstützt, so gut wir konnten. Dennis hatte von den Schieferwerken eine Abfindung bekommen, als sie schließen mussten, wir hatten also ein paar Rücklagen.»
«Und wo hat sie während der Ferien gearbeitet?», fragte Vera.
«Bei Robbins, dieser schicken Boutique.»
Vera nickte, sie kannte den Laden. Sie hatte ihn zwar noch nie betreten, aber immerhin schon ins Schaufenster geschaut. Figurbetonte Leinenkleider, blütenweiße Blusen. Blazer ab 250 Pfund aufwärts.
«Ich hatte ja gehofft, dass sie eine Arbeit in der Nähe von Hexham findet, vielleicht in einem Hotel. Dann hätte sie wenigstens den Sommer über zu Hause sein können. Aber sie sagte immer, sie müsste die Miete für ihre Wohnung ja schließlich weiterzahlen, und ein so gutes Gehalt wie bei Robbins bekommt man hier draußen
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