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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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hinten aus dem Haus eine Stimme, die er kaum wiedererkannte. «Lass ihn rein, Mum. Ihn will ich schon sehen.»
    Die Frau zögerte einen Moment und trat dann beiseite. Als Gary an ihr vorbei ins Haus gekommen war, schloss sie den neugierigen Nachbarinnen mit einem vernehmlichen Knall die Tür vor der Nase.
    Gary ging ins Wohnzimmer, bemerkte im Vorbeigehen, wie unordentlich es war, und fragte sich, ob es hier wohl immer so aussah. Einen Moment lang überlegte er, ob er wohl in einem solchen Chaos leben könnte. Hier war es kein bisschen wie in Fox Mill, das ihm ja immer wie das ideale Heim erschienen war. Die dünnen weißen Jalousien vor den Fenstern waren heruntergelassen, um die Sonne und neugierige Blicke abzuhalten. Es war dämmrig im Raum, er konnte wenige Einzelheiten erkennen. Dann sah er Julie, die zusammengerollt auf dem Sofa lag. Er setzte sich neben sie, nahm ihre Hand. Die Mutter blieb mit besorgter, besitzergreifender Miene in der Tür stehen.
    «Ich wollte gerade Abendessen machen», sagte sie. Eigentlich war es mehr ein Knurren: Die Worte schienen aus den Tiefen ihrer Kehle hervorzukommen.
    «Schon gut, Mum. Er ist ein Freund.»
    «Dann bin ich mal in der Küche.» Das galt Gary und war Warnung und Drohung in einem. Mit einem letzten bösen Blick in seine Richtung verließ sie das Zimmer.
    «Tut mir leid wegen meiner Mutter», sagte Julie.
    «Das macht doch nichts. Ich wäre bestimmt genauso, wenn ich hier wäre, um mich um dich zu kümmern.»
    Sie lächelte schwach. Er streichelte ihr den Handrücken.
    «Ich bin wirklich schrecklich», sagte sie. «Ich kann gar nichts tun. Ich sitze einfach nur hier, den ganzen Tag.»
    «Du bist doch nicht schrecklich. Das kann ich mir nicht vorstellen.»
    «Dabei sollte ich doch stark sein. Für Laura.»
    Er hatte das Gefühl, ihre Mutter aus diesem Satz herauszuhören, und wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste auch nicht, was er von der dünnen, langbeinigen Laura halten sollte. Irgendetwas an ihr erinnerte ihn an Emily, das fand er sehr beunruhigend. Hinter den Jalousien war das Fenster gekippt. Die Kinder draußen auf der Straße sangen einen Reim zu irgendeinem Seilspringspiel. So etwas hatte er schon lange nicht mehr gehört. Es war Ewigkeiten her, dass er kleine Mädchen beim Seilspringen gesehen hatte. Vielleicht hatte ja eine von den Müttern, die dort draußen hockten, ihnen den Vers beigebracht, nachdem sie ihn aus den Tiefen ihrer eigenen Erinnerung hervorgekramt hatte. Gary dachte an die Zeit zurück, als er die Grundschule in Seaton besuchte, wo er mit Julie Richardson über den Schulhof gerannt war und auf dem Rasen Kussfangen mit ihr gespielt hatte, wenn keiner zusah. Vielleicht hatte sie ja ähnliche Gedanken, denn sie stimmte in den Hüpfreim ein:
    «Teddybär, Teddybär, dreh dich um.
    Teddybär, Teddybär, mach dich krumm.»
    Dann schwieg sie ebenso plötzlich wieder, und der Reim auf der Straße ging ohne sie weiter:
    Teddybär, Teddybär, bau ein Haus   …
    «Ich komme mir ein bisschen blöd vor», sagte Gary. «Da sitze ich einfach nur hier herum und kann dir gar nichts sagen. Dir nicht helfen.»
    Sie drückte ihm die Hand. «Doch», sagte sie. «Du hilfst mir schon. Ganz ehrlich.»
    «Ich wusste nicht, ob ich überhaupt kommen soll.»
    Da tat sie etwas Unerwartetes. Sie zog ihn zu sich heran und küsste ihn. Ein richtiger, inniger Kuss, ihre Zunge in seinem Mund, an seinen Zähnen, an seinem Gaumen. Er zog sie fest an sich, spürte ihre weichen Brüste an seinem Körper und merkte, wie ihn das erregte. Obwohl er es gar nicht wollte. Obwohl er wusste, dass sowieso nichts passieren würde. Nicht, solange ihre Tochter und ihre Mutter mit im Haus waren. Nicht, solange es ihr so schlechtging. Und trotzdem jubelte er innerlich, weil er wusste, dass es irgendwann wahr werden würde. All die Träume von ihr, seit sie sich wiedergetroffen hatten. Dem konnte Luke nicht mehr im Weg stehen.
    Er schob sie sanft von sich, strich ihr über die Wange, beugte sich über sie und küsste sie auf den Scheitel, wo man die dunkleren Haaransätze sah. Sie fing an zu weinen.
    «Ach Gott», sagte sie. «Entschuldige.»
    Er wusste genau, dass er sich eigentlich nicht so euphorisch fühlen durfte. Er sollte traurig sein, weil sie auch traurig war. «Du musst dich für gar nichts entschuldigen.» Er sprach mit ernster, sanfter Stimme. Sanfte Stimmen waren schließlich sexy. «Willst du mir von Luke erzählen? Ich kannte ihn ja gar nicht, aber trotzdem, wenn du

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