Totenblüte
jemanden zum Reden brauchst …» Hinter ihrem Rücken schaute erunauffällig auf seine Armbanduhr. Um halb neun musste er wieder im Sage sein.
«Nein», sagte sie. «Ich rede schon seit Tagen über nichts anderes als Luke. Mit der Polizei, mit meiner Mutter, mit meinen Freundinnen. Ich wollte ihn vergessen. Nur eine Minute lang. Ich wollte wissen, ob das geht.»
«Und, ging es?»
«Nicht so richtig.» Sie lächelte. Ein müder Abklatsch des alten Julie-Lächelns. «Aber es war schön, es auszuprobieren.»
Von der Tür her kam ein Geräusch. Eigentlich rechnete Gary damit, dass es die Mutter sein würde, doch es war Laura. Sie war knapp hinter der Schwelle stehen geblieben und starrte sie an. Gary rutschte auf dem Sofa etwas von Julie weg.
«Laura ist heute wieder zur Schule gegangen», sagte Julie mit schrecklich munterer Stimme. «Das fand ich unglaublich tapfer von ihr. Wie war’s denn, Süße?»
«Ganz okay. Die Lehrer waren alle sehr nett. Es gab eine Gedenkversammlung, wegen Luke und so. Aber sie haben gesagt, ich muss nicht hin.»
«Und warst du dann dort?»
«Nee. Aber ich bin draußen stehen geblieben und habe gehört, was sie sagen. Es war alles nur Mist. Irgendwie hatte ich gar nicht das Gefühl, dass sie von Luke reden. Zumindest hat man ihn nicht erkannt aus dem, was sie gesagt haben.»
«Aber es ist doch schön, dass sie an ihn denken und ihre Anteilnahme zeigen.»
Laura sah aus, als wollte sie eine gemeine, abfällige Antwort geben, sagte aber nichts.
«Das ist übrigens Gary», sagte Julie. «Ein alter Freund. Wir waren zusammen auf der Grundschule.»
Laura tat, als hätte sie nichts gehört. «Oma sagt, es gibt gleich Essen.»
Gary stand auf. «Ich muss auch langsam los.»
«Bleib doch noch», sagte Julie. «Iss einen Happen mit uns.»
Doch er merkte, dass sie schon wieder in ihre Starre versunken war. Sie sagte das nur, weil es sich so gehörte.
«Ich muss nachher noch arbeiten», sagte er. «Ein Konzert im Sage.»
Er ging in Richtung Haustür und fragte sich, ob sie sich wohl aufraffen würde, ihn nach draußen zu begleiten, doch sie schien ganz in ihre Gedanken versunken. So machte Laura die Haustür für ihn auf. Die Kinder auf der Straße unterbrachen ihr Spiel, um sie anzustarren, und die Frauen auf den Treppenstufen blickten von ihren Zeitschriften auf. Gary hätte eigentlich erwartet, dass diese ganze Aufmerksamkeit das Mädchen einschüchtern würde. Er kam ja schon kaum damit zurecht. Am liebsten hätte er sie alle angebrüllt:
Was glotzt ihr denn so doof?
Er rechnete damit, dass Laura die Tür gleich wieder hinter ihm schließen und sich zurück ins Haus flüchten würde. Doch das tat sie nicht. Sie stand immer noch dort, als er schon in seinen Transporter gestiegen war und den Motor anließ.
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
Dienstagmorgen. Vera hatte ihr Team zu einer frühen Besprechung zusammengetrommelt. Charlie sah aus, als hätte er am Schreibtisch übernachtet; zumindest war er nicht zum Rasieren gekommen. Joe hatte Frühstücksbreiam Hemd. Nur Holly wirkte wach und lebhaft, und als Vera sie da so hübsch und kerngesund vor sich sitzen sah, überkam sie schrecklicher, zerstörerischer Neid. Sie selbst hatte nie so ausgesehen, nicht einmal in jüngeren Jahren. Als sie hereinkam, saßen die anderen alle schon um den Tisch, und Joe erzählte etwas von Clive Stringer.
«Was ist mit ihm?», fragte Vera, da das Gespräch anscheinend schon fast zu Ende war.
«Wenn wir einen Spinner suchen, wäre er ein ganz guter Kandidat.»
Ach ja?, dachte Vera bei sich. Sie selbst war praktisch mit solchen seltsamen jungen Männern aufgewachsen. Einzelgänger, Besessene. Helfershelfer ihres Vaters.
«Immerhin wühlt er den ganzen Tag in den Eingeweiden toter Vögel herum und hat keine Freunde, bis auf die Typen in Fox Mill. Und keine Freundin.»
Vera fragte sich, ob Joe auch sie für eine Spinnerin hielt. Sie hatte doch auch keine Freunde.
«Und was wäre sein Motiv?»
«Keine Ahnung. Vielleicht hat er es ja bei Lily versucht, und sie hat ihn abblitzen lassen.»
«Dazu müssten wir erst mal beweisen, dass sie sich überhaupt kannten. Und Lukes Mörder haben wir dann auch noch nicht.»
«Dann vielleicht Neid? Sie waren beide jung und attraktiv. Vielleicht reichte ihm das ja schon.»
«Aber wir haben keine Beweise», sagte sie. «Nicht einen. Außerdem hat er kein Auto.»
«Aber einen Führerschein. Was sollte ihn davon abhalten, sich irgendwo ein Auto zu leihen?»
«Und von
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