Totenblüte
wem?», fragte Vera zurück. «Sie haben doch gerade selbst gesagt, er hätte keine Freunde.»
«Er kann es ja auch gestohlen haben. Oder gemietet.»
«Stimmt», sagte sie. «Dann fragen Sie mal bei den Autovermietungen nach. Die müssten sich ja an ihn erinnern.»
«Und wir sollten auch mit seiner Mutter reden.»
«Selbstverständlich.» Vera wahrte nur mit viel Mühe die Beherrschung. «Trotzdem bleiben wir für alle Möglichkeiten offen.»
Das brachte Joe zum Schweigen, und Vera hatte das Gefühl, dass er sauer war. Wahrscheinlich fand er, dass sie jetzt schon lange genug zusammenarbeiteten und sie ihn nicht an diesen Grundsatz zu erinnern brauchte. Es kam sogar häufig vor, dass er
sie
daran erinnern musste.
«Also dann», sagte sie. «Was haben wir sonst noch?» Womit sie signalisierte, dass sie etwas Konkretes hören wollte, keine Spekulationen oder voreiligen Schlüsse. Sie hielt ihre Stimme bewusst ruhig. Es war nicht der richtige Augenblick, um Panik zu verbreiten, obwohl sie langsam wirklich einen Verdächtigen brauchen konnten. Vera spürte wieder, wie die Zeit verrann, während sie hier saßen, spürte wieder die Angst, dass es doch einfach nur zufällige Morde ohne nachvollziehbares Motiv waren und sie bald einen weiteren schönen jungen Menschen mit Blumen bestreut irgendwo im Wasser finden würden.
Charlie rutschte auf seinem Stuhl herum und räusperte sich kräftig, so wie die Penner in den Hauseingängen, bevor sie ausspuckten. Vera wurde fast übel von diesem Geräusch.
«Ich weiß jetzt, wo Lilys Miete herkam.»
«Und woher?»
«Ein Konto bei einer Sparkasse, der North of England. Es lief auf ihren Namen. Bei den Sachen, die das Durchsuchungsteam in ihrem Zimmer sichergestellt hat, war auch ein Sparbuch. Davon hat sie jeden Monat einen Scheck ausgestellt.»
«Und was wurde darauf eingezahlt? Ihr Gehalt aus der Boutique?»
«Nein. Das ging direkt auf ihr Bankkonto. Hab ich Ihnen doch schon gesagt.» Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Vera verspürte das dringende Verlangen, ihn anzubrüllen, endlich mit der Sprache rauszurücken. «Etwa alle sechs Wochen hat sie fünfhundert Pfund darauf eingezahlt.» Er machte eine weitere Pause. «In bar.»
«Und woher hatte sie so viel Geld?»
Charlie zuckte die Achseln. «Vielleicht hat sie nebenbei ein bisschen als Edelnutte gejobbt. Das machen viele Studentinnen. Heißt es.»
Unter anderen Umständen hätten jetzt wahrscheinlich alle gekichert.
Und woher weißt du das so genau, Charlie?
Doch offenbar war ihnen klar, dass Vera von solchen Frotzeleien überhaupt nichts hielt.
Vera dachte an Lilys Kleiderschrank, an die teure Unterwäsche und die Kleider, die alle ein wenig wie Kostüme wirkten. «Das ist zumindest nicht auszuschließen. Geht mal mit einem Foto von ihr zu den einschlägigen Hotels in der Stadt. Vielleicht erkennt sie ja jemand wieder.»
Holly reckte den Arm in die Höhe. Die wohlerzogene Schülerin, die etwas zu sagen hatte.
«Ja?» Vera konnte nur hoffen, dass man ihr ihre Gereiztheit nicht anmerkte.
«Vielleicht hatte sie ja auch einen reichen Liebhaber …»
«Gibt es dafür irgendwelche Anhaltspunkte?»
«Ich habe mit den Mitbewohnerinnen gesprochen.»
«Mir haben sie gesagt, es hätte niemanden gegeben.» Vera merkte, dass sie automatisch in die Defensive ging, konnte aber nichts dagegen tun. «Zumindest schienen sie nichts darüber zu wissen.»
«Sie wollten nicht zugeben, dass sie einmal eins vonLilys Telefonaten belauscht haben. Das war ihnen peinlich. In der Küche steht ein Nebenanschluss. Sie haben das auch nur einmal gemacht, aber sie waren einfach viel zu neugierig, wollten unbedingt wissen, was da los ist. Das hatte ich schon vermutet. Ist doch nur natürlich, oder? Also habe ich ein bisschen in die Richtung nachgehakt. Sie haben mitbekommen, dass Lily jemanden anruft, sind an den Apparat in der Küche gegangen und haben gelauscht.»
«Und?»
«Keine Details», sagte Holly. «Und auch nichts richtig Brauchbares, keinen Namen beispielsweise. Es ist nicht mal sicher, dass sie wirklich etwas mit ihm hatte. Sie muss wohl gemerkt haben, dass die beiden lauschen, denn sie hat das Gespräch auffallend kurz gehalten.»
«Was haben sie denn nun mitgehört?»
«Es war ein älterer Mann. Gebildet. Gute Ausdrucksweise. Und es ging um eine Verabredung zum Abendessen.»
«Das kann ja so ziemlich alles gewesen sein. Ein Verwandter. Ein Kollege. Ihr Chef aus der Boutique.»
«Einen Verwandten kann man
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