Totenblüte
klar, dass Julie in der Nacht, als ihr Sohn starb, genau das bei sich zu Hause vorgefunden haben musste. Blumen und Mondenschein. Das hatte die Polizistin gemeint, als sie sagte, der Mord an Luke würde Ähnlichkeiten mit dem an Lily aufweisen. Sie waren auf dieselbe Weise inszeniert worden.
Er wusste, wo Julie wohnte. Er hatte die Adresse im Telefonbuch nachgeschlagen. Ihr Haus lag keinen halbenKilometer von dort entfernt, wo sie als Kind gewohnt hatte. Gary war im selben Dorf aufgewachsen, allerdings am anderen Ende, in der neuen Wohnsiedlung, die inzwischen auch nicht mehr richtig neu war. Komisch, jetzt hierher zurückzukommen. Als er auf dem Gymnasium war, war er jeden Tag mit dem Bus diese Hauptstraße von Whitley her entlanggefahren. Erinnerungen kamen wieder, überlagerten die Angst, was Julie wohl sagen würde, wenn er einfach so plötzlich vor ihrer Tür stand. Er dachte daran, wie die Jungs auf dem Oberdeck lärmten, sich gegenseitig mit ihren Schulranzen bewarfen. Wie er den Arm um Lindsay Waugh legte und an ihrem Ohrläppchen knabberte, während sie knallrot anlief und die anderen johlten. Oder wie er neben Clive saß, unterwegs, um eine Amerikanische Krickente auf dem Blyth zu beobachten, und dabei so tat, als würde er ihn gar nicht kennen, weil Clive eben so ein kauziger Freak war. Was hätten Lindsay und die anderen gedacht, wenn sie gewusst hätten, dass Gary auch Vögel beobachtete?
Ohne es recht zu merken, war er im Dorf angekommen und bog in Julies Straße ein. Es war sechs Uhr, die Kinder spielten auf der Straße. Auf den Stufen vor einem Haus saßen zwei Mütter und passten auf. Wahrscheinlich war das einfach so seit dem Mord an Luke. Gary spürte, dass sie ihn musterten. Ein Fremder in ihrer Straße. Wären sie nicht gewesen, er wäre wahrscheinlich tatsächlich bis zum Ende der Straße gefahren und im Auto sitzen geblieben, bis er irgendwann die Nerven verloren hätte und wieder gefahren wäre. Aber als er die zwei Frauen sah, regte sich Trotz in ihm. Er war schließlich ein Freund von Julie, er hatte ja wohl das Recht, ihr sein Beileid auszusprechen. Außerdem war Vorsicht geboten: Mindestens eine der Frauen hatte sich inzwischen wahrscheinlich schon seine Autonummereingeprägt. Wenn er gleich wieder wegfuhr, würden sie sicher sofort die Polizei anrufen, ihn als verdächtige Person melden und behaupten, er sei vor ihnen geflohen, oder etwas ähnlich Unsinniges.
So hielt er also direkt vor dem Haus, ging den kleinen Weg hinauf, ohne die glotzenden Weiber eines Blickes zu würdigen, und klopfte an die Tür. Während er wartete, dachte er sich, er hätte eigentlich etwas mitbringen müssen. Ein Geschenk. Aber was? Auf keinen Fall Blumen. Das wäre ja irrsinnig taktlos gewesen. Einen Wein vielleicht, aber das hätte dann so gewirkt, als käme er uneingeladen zu einer Party. Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans, weil er nicht wusste, was er sonst damit anfangen sollte. Manchmal, wenn er zu viel Bier getrunken oder zu scharf gegessen hatte, bekam er hinterher diesen Albtraum. Er stand auf der Bühne der Stadthalle, vor vollbesetztem Haus, und hantierte mit dem Mikro, aber der Ton war eine Katastrophe. Und er war splitterfasernackt. So fühlte er sich jetzt auch.
Die Tür ging auf, und vor ihm stand ein junges Mädchen in Schuluniform. Zumindest einer Art Uniform. Weißes Hemd, kurzer schwarzer Rock. Keine Krawatte. Er überlegte kurz, ob er sich wohl im Haus geirrt hatte, dann fiel ihm wieder ein, dass Julie ja noch ein weiteres Kind hatte, eine Tochter. Er durchforstete sein Hirn nach dem Namen. Laura. Doch noch bevor er sie ansprechen konnte, eilte von hinten eine ältere Frau heran. Sie hielt zwei Topfhandschuhe in einer Hand und hatte etwas von einem glücklosen Türsteher. «Laura, Schätzchen, ich habe dir doch gesagt, du sollst niemandem aufmachen.» Das Mädchen musterte Gary noch einen Moment lang, zuckte dann die Achseln und verschwand die Treppe hinauf.
Die ältere Frau schlug einen deutlich entschiedenerenTon an. «Was wollen Sie? Wir reden nicht mit der Presse. Die Polizei ist jeden Moment wieder hier.»
«Ich bin nicht von der Presse. Ich bin ein Freund von Julie.»
Die Frau sah ihn an. Sie hatte auffallend kleine Augen und einen bösen Blick.
«Julie will niemanden sehen.»
Gary wollte schon aufgeben und war fast erleichtert darüber. Er konnte ihr ja auch eine Nachricht hinterlassen. Dann würde Julie zumindest wissen, dass er an sie dachte. Doch da kam von
Weitere Kostenlose Bücher