Totenblüte
Anrufe oder Besuch?»
«Leider nicht. Wenn ich schreibe, gehe ich nicht ans Telefon.»
«Vielleicht hat ja jemand von den Nachbarn gesehen, wie Sie zu dem Fest aufgebrochen sind?»
«Das können Sie gern überprüfen, Inspector, aber ich wage es zu bezweifeln. In dieser Gegend interessieren sich die Leute nicht sehr füreinander.» Er lächelte. «Noch einen Schluck Wein, Inspector? Vielleicht ein halbes Glas? Ich weiß ja, dass Sie noch fahren müssen.»
Vera war in Versuchung, schüttelte dann aber doch den Kopf und stand auf. Sie fragte sich, warum er wohl so nett zu ihr war. Die meisten Männer gaben sich keine große Mühe mit ihr, und auch Samuel flirtete nicht direkt, wollte aber eindeutig einen guten Eindruck auf sie machen. War das bloße Gewohnheit? Schließlich hatte er beruflich sicher viel mit verschrobenen Frauen mittleren Alters zu tun. Vielleicht hatte er das ja auch zu seinem Führungsstil gemacht. Oder hatte er noch andere Gründe, sie auf seiner Seite wissen zu wollen?
Er brachte sie zur Tür, reichte ihr zum Abschied die Hand und wartete in seinem kleinen Vorgarten, während sie die Fahrertür aufschloss. Als sie losfuhr, kam es ihr vor, als hätte sie sich in gewisser Weise doch von ihm verführen lassen. Er hatte das Gespräch kontrolliert. Es war genau so verlaufen, wie er das gewollt hatte.
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
Gary dachte schon den ganzen Tag daran, Julie zu besuchen. Er konnte an nichts anderes mehr denken. So wie ein Ohrwurm: Man versuchte, an etwas anderes zu denken, aber das machte es meistens nur noch schlimmer, und das blöde Lied wurde immer lauter und lauter, bis man irgendwann gar nicht mehr klar denken konnte.
Er hatte zu einer technischen Probe im kleinen Konzertsaal des Sage gemusst. Dort arbeitete er vom Mischpult in der Mitte des Raumes aus. Die Künstlerin war Dichterin, und manchmal sang sie auch, zusammen mit ihrer Band. Wenn Gary arbeitete, konzentrierte er sich normalerweise nur darauf, den Ton ganz perfekt hinzukriegen. Für große Orchester war das Sage super, aber so etwas Kleines und Intimes war gar nicht mal so leicht abzumischen. Die Musiker spielten guten, atmosphärischen Blues, er wollte ihnen gerecht werden. Und obwohl Lyrik sonst so gar nicht sein Ding war, erwischte er sich immer wieder dabei, wie er auf die Texte hörte. Vielleicht, weil die Dichterin ihn an Julie erinnerte. Sie sah ihr zwar gar nicht ähnlich – sie war jünger als Julie, und außerdem war sie schwarz –, aber sie strahlte so eine Wärme aus, war recht üppig und lachte viel. So hatte er eben den ganzen Tag damit zugebracht, an Julie zu denken und sich zu überlegen, wie er Kontakt mit ihr aufnehmen sollte und ob das überhaupt eine gute Idee war oder einfach nur unangemessen.
Zwischen der Probe und dem Auftritt hatte er ein paar Stunden frei. Ein später Gig für Leute, die in der Bar schon etwas vorgeglüht hatten, Künstler und andere Bohemiens, die am nächsten Morgen nicht früh aufstehen mussten. Gary wollte die Stufen zum Fluss hinuntergehen. Als er aus dem klimatisierten Konzertsaal trat, traf die Hitze ihn wieein Schlag ins Gesicht. Man sollte nicht glauben, dachte er, dass es in Gateshead überhaupt so warm wird. Gateshead, das waren Graupelschauer und schneidender Ostwind. Weiter oben am Ufer drehte sich gemächlich das Riesenrad. Das Sage hinter ihm war erleuchtet, man sah die beiden Foyers durch die gläserne Außenwand, und Gary fand, dass sie fast wie zwei riesige Schiffe aussahen. Das Foyer des großen Konzertsaals war wie ein Kreuzfahrtschiff mit mehreren Decks, das kleinere wie ein stupsnasiger Schlepper. Eigentlich hatte er vorgehabt, über die Fußgängerbrücke ins Zentrum zu gehen und dort etwas zu essen, aber jetzt entschied er sich plötzlich anders.
Er rannte die Stufen wieder hinauf, zum Parkplatz, und gleich darauf saß er in seinem Transporter, hatte den Motor angelassen und war auf dem Weg nach Norden. Er wollte zumindest ihr Haus sehen. Das hieß ja noch nicht, dass er schon beschlossen hatte, auch sie zu sehen. Er würde einfach einmal durch ihre Straße fahren, wenden und wieder zurückfahren. Das war immerhin besser als gar nichts.
Dann fiel ihm wieder ein, wie sie nach dem Treffen des Vogelclubs im Pub gesessen hatten, wie er von Julie erzählt und Peter ihn aufgezogen hatte.
Mein Gott, ist die Jugend heute wieder romantisch. Nichts als Blumen und Mondenschein.
Und während er sich durch die Schleichwege von Heaton schlängelte, wurde Gary
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