Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
Vermögen machen, ja? Jun ist faul und dumm, und alles, was ich habe, will er auch haben, und so muss ich ihn nicht lange überreden. Er fragt nicht einmal, warum ich Ailing nicht zu mir hole, wenn ich bin so reich. Er leiht sich Geld so wie ich, um zu kommen, und als er hier ist, bitte ich ihn, mir mit Schnursenkel behilflich sein, und dann ich töte ihn, wie er vor mir kniet. Geht sehr schnell.« Er schien sich in Gedanken an die Geschwindigkeit des Todes zu verlieren. »Sie müssen wissen, dass Fengdu bedeutet Stadt der Geister . Unser Glaube sagt, hier kommen Tote vorbei, wenn in Jenseits gehen – Pforten von Hölle …«
    Schnürsenkel, dachte Van Leeuwen; es heißt Schnürsenkel. Erstin diesem Moment fiel ihm auf, wie still es um ihn herum war, auf dem Gang, in den anderen Zellen. Er hörte keinen Laut, jetzt, da Zheng Wu schwieg, nur das Klopfen seines eigenen Herzens.

26
    Die Hände des bärtigen Mannes waren an den Gelenken zusammengebunden. Wie zum Gebet gefaltet, lagen sie auf den Oberschenkeln der ausgestreckten Beine, und der einzige Unterschied zu der Haltung, in der Zheng Wu auf seiner Pritsche gesessen hatte, war der Umstand, dass der bärtige Mann nicht mehr lebte. Er trug eine helle Kutte, die ihm bis zu den Knöcheln der nackten Füße reichte. Die Zehen, wahrscheinlich erst kürzlich im Todeskampf verkrampft, hatten sich wieder entspannt, und auch die derben Gesichtszüge hätten einem Schlafenden gehören können.
    Alles, was dagegensprach, dass der bärtige Mann im Licht der Fackel vor seinem Stuhl nur kurz eingenickt war, ließ sich auf ein einziges Indiz zurückführen: Um seinen Hals hatte jemand ein Würgeeisen zugezogen, und es handelte sich auch nicht um einen schlichten Holzstuhl, sondern um eine Garotte, an deren Lehne der Hingerichtete hing.
    Die Zeichnung hieß Der Garottierte. Goya hatte sie zwischen 1778 und 1780 aufs Papier geworfen, und der Tote wirkte wie vom Blitzlicht eines Polizeifotografen im kahlen Gemäuer seiner Zelle eingefroren. Erst dreißig Jahre später war der spanische Maler mit den Radierungen unter dem Titel Desastres wieder auf diese unter seinen Landsleuten in jenen Tagen außerordentlich beliebte Form des Mordens zurückgekehrt. Mit scharfen, zornigen, präzisen Strichen hatte er neunundsechzig Momentaufnahmen vom Wahnsinn des Krieges angefertigt – von Vergewaltigungen und Erschießungen, von Erhängten, Zerstückelten und Erstochenen. Von Leichenbergen, Verbrennungen und Massengräbern. Von einem endlosen Blutrausch, der gleichermaßen in Spaniern und Franzosen raste, in Soldaten und Priestern, Männern und Frauen.
    Der Commissaris interessierte sich an diesem Abend besonders für die Bilder, die garottierte und erhängte Opfer zeigten, für ihre Mienen, ihre Haltung. Er wollte herausfinden, was ihr Anblick über das Sterben durch Ersticken sagte. Natürlich war es ein Unterschied, ob man starb, weil einem jemand eine Plastiktüte über den Kopf stülpte oder weil ein Draht oder ein Halseisen einem die Luftröhre zusammenpressten. Im Spanien Goyas diente das Metallband, an dem der Tote auf der Zeichnung hing, allerdings nur zum Festhalten des Opfers, dem anschließend von hinten eine Metallschraube ins Genick getrieben wurde.
    Immer wieder hatte der Maler in seinen Desastres diese Hinrichtungsart vorgeführt, und jedes Mal tauchte in der Unterschrift zu den Radierungen die Frage Warum ? auf. Und das war die Antwort: Weil man sie für Feinde oder Verräter hielt. Weil sie aus einer anderen Gegend stammten oder einem fremden Land. Weil sie eine andere Religion hatten. Weil sie Angreifer oder Verteidiger, Priester oder Frauen waren. Weil sie an etwas glaubten oder an das Falsche oder an gar nichts. Weil sie in einer Kneipe geraucht hatten. Weil sie ihren Müll nicht getrennt hatten. Weil sie Karikaturen des Propheten veröffentlicht hatten.
    Aber kein Mann war getötet worden, weil er die Frau eines anderen in Versuchung geführt hatte; keine Frau, weil sie ihren Mann mit einem anderen betrogen hatte. Jedenfalls nicht auf diesen Skizzen, dachte Van Leeuwen. Er betrachtete die Zeichnung Nummer 35, auf der acht garottierte Mönche zu sehen waren, mit der Unterschrift: Niemand kann wissen, warum? Und er dachte: Muss in der Antwort auf das Warum immer auch der Grund liegen? Oder wurde mit dem Grund auch die Bedeutung mitgeliefert? Er kam zur letzten Radierung, Nummer 69, aus den Desastres , deren Unterschrift einfach lautete: Nichts. Das bedeutet es.
    So viel zur

Weitere Kostenlose Bücher