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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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Cousin verheiratet, und ich liebe ihn auch und werde ihn immer lieben. Du darfst nicht so neben mir liegen und meine Nase mit deiner berühren, niemals, solange wir beide leben.«
    »Hat er sich daran gehalten?«
    Ailing schwieg. Sie sah hinaus, auf die Häuser und die Straßenlaternen, über denen der frühe Abend den Himmel verdunkelte. »Ja, er hat sich daran gehalten«, antwortete sie schließlich. »Er lag neben mir auf dem Moos im Zedernwäldchen und hat meine Nase nicht berührt. Er hat nichts von mir berührt, obwohl er immer wieder sagte: Nur ein Mal, Ailing, meine süße Taube, nur ein Mal, danach gehe ich, und du wirst mich nie wiedersehen. Aber als ich ihm wieder erklärt habe, dass es unmöglich ist, dass er einen anderen Weg finden muss, um glücklich zu werden, ist er gegangen. So sehr hat er mich geliebt.«
    »Er ist gegangen, weil Zheng ihn aus China fortgelockt hat«, widersprach der Commissaris.
    »Aber wenn ich ihm erlaubt hätte, neben mir zu liegen, meine Nase mit seiner zu berühren, dann wäre er nicht gegangen.« Ailing nickte und hielt den Blick danach wieder auf den Mantel und auf den Brief gesenkt. »Vielleicht hat er mich mehr geliebt als Zheng.«
    »Das ist unmöglich«, sagte der Commissaris.
    »Warum?«
    »Weil ich es nicht glaube!«, brüllte Van Leeuwen plötzlich. »Ich glaube nicht, dass dieser Verführer Sie genauso geliebt hat wie Ihr Ehemann! Oder noch mehr!«
    Ailing wandte ihm ihr Gesicht zu. Ihre Augen waren groß und noch dunkler vor Staunen. Sogar ihr Mund öffnete sich ein wenig. »Sind Sie vielleicht verrückt?«, fragte sie, und nach einer Weile dachte der Commissaris, dass die seltsamen, melodischen Laute ihrer Sprache sehr gut zum Inhalt dieser Frage passten, auch wenn er die Frage selbst nicht für angebracht hielt.
    Auf der Stadhouderskade hielt er vor dem kleinen Hotel unweit des Hoofdbureaus, in dem Ailing Wu für die Zeit der Befragung und die anschließende Eröffnung des Gerichtsverfahrensuntergebracht war. »Fragen Sie sie, ob sie weiß, dass ihr Mann im Rollstuhl sitzt«, forderte er die Dolmetscherin auf.
    »Im Rollstuhl, aber warum?«, rief Ailing.
    »Weil der Schmerz seiner Seele die Beine genommen hat«, erwiderte der Commissaris. »Ihr Mann hat sehr gelitten, er hat ein äußerst schweres Verbrechen begangen, und niemand kann sagen, ob Ihre Nasen sich je wieder berühren werden.«
    Er stieg aus, um Zheng Wus Frau die Tür zu öffnen und sie ins Hotelfoyer zu begleiten. Auf den Fahrbahnen der breiten Straße neben der Singelgracht flutete der schimmernde, blinkende, lärmende Strom des Nachmittagsverkehrs, vor dessen Untiefen er Ailing behüten wollte, zumindest so lange, wie sie seiner Obhut anvertraut war. Diesmal ließ sie ihn ihren Koffer tragen, und als sie die Treppe zum Eingang des Hotels hinaufstiegen, sagte sie: »Vor einem chinesischen Gericht wäre es besser für Zheng, wenn ich ihn wirklich mit seinem Cousin betrogen hätte. Die Richter hätten viel mehr Verständnis dafür, dass er ihn getötet hat.«
    »Das mag schon sein«, antwortete der Commissaris. »Aber ich fürchte, wir Holländer stehen der Idee des Verbrechens aus Leidenschaft weniger aufgeschlossen gegenüber.«
    Trotzdem wünschte er sich, seine eigene Frau hätte die Annäherungen jenes geheimnisvollen Sandro während ihrer italienischen Reisen genauso entschieden zurückgewiesen wie Ailing die Versuchungen durch Jun Wu. Er hatte es sich gewünscht, als er auf die Beweise gestoßen war, und er wünschte es sich auch jetzt.

25
    Zheng Wu schwieg. Er saß mit dem Rücken an die Zellenwand gelehnt, die nutzlosen Beine hingen über die Kante der Pritsche. Er trug einen grauen Schlafanzug mit schwarzen Knöpfen, und sein Haar war jetzt ein wenig länger. Er sah den Commissaris an, aber sogar seine Augen schwiegen. Das Licht, das kalt von der Decke fiel, ließ ihn alt und bitter wirken.
    Der Commissaris stand am Fußende der Pritsche und schwieg ebenfalls. Es gab keine weitere Sitzgelegenheit in der Zelle außer Zheng Wus Rollstuhl, der zusammengeklappt an der Wand lehnte, gleich neben der Kloschüssel aus Edelstahl. Ein kleiner Tisch mit ein paar Büchern darauf hätte noch Platz gefunden, vielleicht sogar ein Fernsehapparat, doch auch die gab es nicht. Der Boden war so nackt wie die Wände; die einzige Ausnahme bildete das Foto von Ailing, das in Wus Wohnung auf der Kommode gestanden hatte.
    Der Commissaris sah auf den Chinesen hinunter. Er hatte die Hände in den Taschen seines

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