TotenEngel
Trenchcoats vergraben. Jetzt zog er sie heraus, öffnete den Gürtel und knöpfte den Mantel auf. Er ging zu dem Rollstuhl und klappte ihn auseinander. Er setzte sich hinein, mit dem Gesicht zur Pritsche, und betrachtete den Chinesen noch einen Moment lang wortlos, dann wanderte sein Blick zu dem Foto von Ailing, ehe er sagte: »Was Sie noch nicht wissen, Mijnheer Wu – auch ich hatte eine Frau, die ich sehr geliebt habe.« Sein Blick kehrte zu Wu zurück. »Ihr Name war Simone, aber ich habe sie immer Sim genannt. Sie ist vor einigen Monaten gestorben.«
Der Chinese presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie alle Farbe verloren. Er verschränkte die Arme vor der Brust, die Hände waren zu Fäusten geballt.
Van Leeuwen fuhr fort: »Bevor sie starb, ist sie sehr krank geworden. Es war eine schwere Krankheit, die lange gedauert hat, so lange, dass sie mir wie eine Ewigkeit vorkam. Sim, meine Frau, hat nämlich nach und nach alles vergessen – wer sie war, wer ich war, ihr ganzes Leben und mein ganzes Leben dazu. Ich war der Einzige, der noch wusste, wie wir uns begegnet waren und dass wir uns ineinander verliebt hatten und warum wir uns nach über dreißig Jahren noch immer liebten. Sie wusste ja nicht einmal, dass sie krank war. Aber auch ich wusste nicht alles. Ich hatte nämlich in den ganzen Jahren nie eine andere Frau gehabt, ich bin Sim immer treu gewesen. Sogar als sie krank und ein wenig unansehnlich geworden war, habe ich mich darauf konzentriert, vor allem uns beide zu bewahren, unser Leben, die Reste von Glück, die noch nicht in derErinnerung geschmolzen waren. Und weil das so war, dachte ich, dass auch sie mir immer treu geblieben wäre.«
Van Leeuwen sah, dass Zheng Wus Haltung sich lockerte. »Ich hatte mich nie gefragt, ob ich ihr vertrauen könnte; ich tat es einfach, so wie sie mir vertrauen konnte. Aber eines Tages, als ich einen alten Koffer öffnete, fand ich darin die Briefe. Es waren Briefe, die ihr ein anderer Mann geschrieben hatte, ein Liebhaber. Schreckliche Briefe, in denen eine Frau vorkam, die ich gar nicht kannte und mit der ich doch verheiratet gewesen war und die es fertiggebracht hatte, zwei Männer zu lieben, wenn auch wohl nicht auf dieselbe Weise. Zu dem Zeitpunkt, als ich die Briefe fand, lebte sie noch, aber sie war schon krank und konnte sich nicht mehr erinnern.«
Der Chinese beugte sich vor; seine Fäuste waren jetzt geöffnet und lagen auf der Decke über seinen Oberschenkeln.
»Sie konnte sich nicht mehr erinnern«, wiederholte Van Leeuwen. »Ich wollte sie fragen, wer der Mann war, warum sie es getan hatte oder was es ihr bedeutete. Ich wollte sie fragen, was ihr bei mir gefehlt hatte, wie es dazu gekommen war. Ich hatte tausend Fragen, aber stellen konnte ich ihr keine einzige, denn sie wusste ja nichts mehr davon. Sie wusste nicht, wer ich war oder sie selbst oder dieser Sandro! Sie hatte mir so wehgetan, dass ich sie anschreien wollte, aber sie hätte nicht gewusst, warum. Ich habe sie trotzdem angebrüllt, weil es einfach gut getan hat. Aber eins weiß ich, Mijnheer Wu – ich weiß, was Eifersucht ist. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man völlig ohnmächtig ist.«
Wus Lippen zuckten. »Sie haben Ihre Frau vertraut«, sagte er plötzlich. »Warum?«
Warum? , dachte Van Leeuwen – warum, das geht dich nicht das Geringste an, mein chinesischer Freund! Stattdessen antwortete er: »Weil sie bereit war, mir zu vertrauen.« Sie hat mir immer vertraut, selbst als sie wusste, dass mein Vertrauen in sie nicht mehr gerechtfertigt war. »Einmal, ganz am Anfang, wachte ich mitten in der Nacht auf und sah sie neben mir schlafen. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Arme über den Kopf geworfen, und ich weiß noch, dass ich sie angesehen und gedacht habe: Wer schläft so? Was war das für eineFrau, die so schlief – schutzlos, unverhüllt … Hatte sie keine Angst? Wie konnte sich jemand so preisgeben? War sie so furchtlos, so sicher? Und da, auf einmal, wurde mir klar, dass sie mir vertraute. Deswegen habe ich ihr vertraut.«
»Das sehr traurig«, meinte Zheng Wu. »Ein sehr traurige Geschichte.«
Van Leeuwen nickte. »Ich erzähle sie Ihnen, weil ich weiß, was in Ihnen vorgegangen ist, als Sie die Briefe Ihrer Frau erhalten haben, Mijnheer Wu. Und dabei hat Ihre Frau Sie nicht einmal betrogen. Sie ist Ihnen treu geblieben.«
»Ich weiß«, sagte Zheng Wu.
»Wenn Sie das wissen, warum haben Sie Ihren Cousin dann getötet?«, fragte der
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