TotenEngel
Bedeutung, dachte er. Nada. Dann dachte er: Das ist der Unterschied zwischen uns beiden, Francisco, alter Freund – ich kann mich mit nada nicht zufriedengeben. Ich muss eine andere Antwort finden, einen Namen, ein Motiv.
Im Fall Zheng Wu gibt es ein Geständnis, und jetzt kenne ichauch den Tathergang und das Motiv. Wir haben bloß noch ein paar offene Fragen, zum Beispiel: Warum hat Zheng Wu seinen Cousin nicht erstochen oder erschlagen, vielleicht sogar erschossen, sondern mit einer Drahtschlinge erdrosselt? Aber diesen Punkt und alle anderen, die noch nicht befriedigend geklärt sind, können im Verlauf der Verhandlung zur Sprache gebracht werden. Wichtig ist vor allem, dass ich mich jetzt ganz auf die Ermittlung in den Fällen Gerrit Zuiker und Heleen Soeteman konzentrieren kann. Um Zheng Wu brauche ich mich nun nicht mehr zu kümmern; er hat gebeichtet.
Es war wie immer, wenn man sich irrte: Man wusste nicht, dass man sich irrte. Erst wenn man später zurückschaute auf die verschiedenen verpassten Gelegenheiten, bei denen man etwas hätte ahnen müssen, es aber nicht getan hat, wusste man es. Wenn man klüger war, weil im Angesicht der Geschehnisse der Weg so eindeutig, so unmissverständlich zu der Katastrophe hatte führen müssen, dann wusste man es. Und so blieb Van Leeuwen später als schwacher Trost auch nur der Gedanke, dass es sich vielleicht um einen Ausgleich handelte – er hatte ein Verbrechen entdeckt, wo keins zu vermuten gewesen war, und dadurch wahrscheinlich viele andere verhindert. Dafür stand er im Begriff, durch seine Ermittlungen Gefahr für Menschen heraufzubeschwören, die ohne sein Zutun vielleicht nie in die Nähe des Todes geraten wären.
Aber das war später, als auch Nichts, das bedeutet es! keinen Trost mehr darstellte.
Unter dem aufgeschlagenen Bildband mit den Desastres lugte der Ausdruck von Cho Seung Huis Hilfeschrei im Internet hervor, und auf einmal fiel Van Leeuwen auf, wie nahtlos sich der von Pathos und Selbstmitleid erfüllte Text in seine Überlegungen fügte und wie oft vor allem dieses Selbstmitleid das eigentliche Motiv für einen Mord darstellte.
Wisst ihr, wie man sich fühlt, wenn einem ins Gesicht gespuckt wird, wenn einem immer nur Müll in die Kehle gestopft wird? Wisst ihr, was für ein Gefühl das ist, sein eigenes Grab zu schaufeln? Wisst ihr, wie man sich fühlt, wenn einem die Kehle von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt wird? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, lebendig verbrannt zuwerden? Wisst ihr, wie es sich anfühlt, gedemütigt und am Kreuz aufgespießt zu werden, um zu eurer Unterhaltung zu verbluten?
Was für einen Titel würdest du diesem sogenannten Manifest geben, Don Francisco de Goya?
Van Leeuwen klappte das Buch zu und blickte über den grünen Schirm der Leselampe auf den Nachthimmel. Er hatte das Fenster, an dem sein Schreibtisch stand, geöffnet, und von draußen drang die frische Luft des späten Abends herein. Der Tag war für die Jahreszeit zu warm gewesen, und auch jetzt konnte man meinen, es sei eine laue Sommernacht, nicht Herbst. Van Leeuwen glaubte, einen Geruch nach Laub und spät blühenden Blumen zu spüren. Es war ein milder, würziger Duft, der ihn an Ahornsirup denken ließ, und auf einmal drehte sich sein Herz ein winziges Stück.
Warum hatte er Zheng Wu, einem Mörder, von Simone erzählen müssen? Von seiner Ehe und davon, wie ihr Ende gewesen war? Von dem Mann, dessen Namen er kannte, auch wenn er nicht wusste, wo er ihn suchen sollte? Weil Jun Wu tot war und Sandro noch lebte? Weil auch das keine Bedeutung hatte?
Aber es bedeutete ja etwas – es bedeutete etwas, dass ihm nicht einmal der Gedanke gekommen war, an diesem Verführer namens Sandro Rache zu nehmen. Der Gedanke an Rache macht dich zu einem Besessenen, dachte er; er dreht sich in dir wie die Flügel einer schwarzen Windmühle, unablässig bei Tag und bei Nacht. Das ist nichts für dich.
Er zog die Schreibtischschublade auf, holte sein Briefpapier heraus und schob ein Blatt ins Licht der Schreiblampe. Er suchte den Füllfederhalter in der Schale mit Bleistiften, Kugelschreibern und farbigen Filzpens und schraubte ihn auf. Er drückte die goldene Feder mehrmals gegen die Schreibunterlage, bis die Tinte feucht in ihrer gespaltenen Zunge schimmerte. Er starrte auf das Papier, und so wie ein Foto im Entwickler Konturen annimmt, tauchte auf dem weißen Blatt kurz Sandros Gesicht auf. Es war das Gesicht von dem Polaroid, das Van Leeuwen bei den Briefen in Simones
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