TotenEngel
Koffer gefunden hatte. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass sie tot ist, dachte er. Er setzte die Feder an und schrieb:
Mijnheer,
ich weiß nicht, wer Sie sind oder wie Sie wirklich heißen oder wo Sie wohnen. Ich bin Polizist, und ich könnte versuchen, Sie zu finden, und
vielleicht würde es mir sogar gelingen. Aber ich habe beschlossen, es nicht zu tun. Ich werde niemals versuchen, Sie zu finden, Sie können unbesorgt
sein. Durch eine Frau, die wir beide geliebt haben, sind unsere Leben auf immer miteinander verknüpft. Es war meine Frau, nicht Ihre, daran besteht
kein Zweifel, aber durch ihren Tod sind wir beide auf unsere kleinen Inseln der Einsamkeit verbannt worden, nur dass ich auf meiner für den Rest
meines Lebens bleiben muss, während Sie vielleicht längst von einer anderen Frau erlöst worden sind. Das ist das Ungerechte daran, und deswegen
will ich nicht einmal mehr an Sie denken, nie mehr.
Er faltete das beschriebene Blatt, nahm ein Kuvert aus der Schublade und schob es hinein. Danach klebte er das Kuvert zu, stand auf und legte es auf das Fensterbrett, wo jeder Brief, den er noch einmal überdenken wollte, seinen vorübergehenden Platz fand. Einen Moment lang blieb er am Fenster stehen, dann schloss er die Flügel. Er freute sich auf sein Bett. Als er ins Schlafzimmer ging, merkte er, wie müde er war, aber es dauerte noch einige Sekunden, bis er begriff, dass er sich tatsächlich auf den Schlaf in seinem eigenen Bett freute. Zur Feier dieser Erkenntnis zog er sich sogar aus und schlüpfte in einen Schlafanzug.
Die Züge werden mir fehlen, dachte er.
Kurz vor dem Einschlafen stockte ihm plötzlich der Atem, und er musste nach Luft schnappen. Einen winzigen, schwindelerregenden Augenblick lang befand er sich wieder im Zimmer der todkranken Miriam Brautigam und sah zur Tür hinüber: der Tür zum Klinikflur, die er geschlossen hatte und die dann doch einen Spaltbreit offen gestanden hatte. Und stärker als an jenem Abend seiner Anwesenheit in der Klinik spürte er jetzt, dass dort auf dem Gang jemand gewesen war, der ihn beobachtet hatte, und dass es sich um niemand anderen als den Mörder gehandelt hatte.
Das ist der Schlüssel, dachte er, der Schlüssel zur Lösung des Falls. Aber im selben Moment entglitt ihm das Bild schon wieder. Er wusste nur noch, er hatte etwas gesehen, und es war nicht zufällig aus dem ewig kreisenden, dunklen Gedankenstrom des Unterbewusstseins aufgetaucht. Du irrst dich, Don Francisco, alter Freund, dachte er im Halbschlaf: Alles bedeutet etwas …
27
Es war die Phase der Ermittlungen, in der sich nach und nach eine Spur ergab: Man ging einen sandigen Weg entlang, auf dem man fortwährend wegrutschen konnte, und auf einmal entdeckte man die undeutlichen Fußabdrücke von jemandem, der vor einem auf diesem Weg gegangen war. Manchmal waren sie kaum erkennbar, und nicht selten verloren sie sich auf dem weichen Untergrund wieder. Aber manchmal wurden sie auch mit jedem Schritt fester und tiefer, und mit etwas Glück ergaben sie eine Richtung, der man folgen konnte.
Der Commissaris stand in der Mitte seines Büros und betrachtete die riesige magnetische Landkarte des Königreichs, die neuerdings das Plakat von Ajax an der Wand gegenüber seinem Schreibtisch verdeckte. Ein halbes Dutzend kleiner roter Metallknöpfe leuchtete rings um Amsterdam, ein weiterer dicht bei Haarlem, und der achte hatte sich in der Nähe von Utrecht niedergelassen. Sie ergaben noch kein Muster und erst recht kein Bild; sie bezeichneten die Fundorte von Leichen, die zu verschiedenen Zeitpunkten in den vergangenen Jahren als unverdächtige Todesfälle zu den Akten gelegt worden waren und aufgrund erneuter Untersuchungen durch die jeweiligen Pathologen nun zu ungeklärten Mordfällen geworden waren: möglicherweise Tod durch Ersticken mittels einer Plastiktüte oder eines Zellophanbeutels.
»Es werden immer mehr«, sagte Hoofdinspecteur Ton Gallo leise hinter dem Commissaris. »In Amsterdam. Utrecht. Den Haag. Zandvoort. Überall.«
»Machen wir eigentlich irgendwelche Fortschritte?«, fragte der Commissaris.
»Keinen einzigen«, antwortete Gallo nüchtern. »Wir haben noch nie weniger Fortschritte bei einer Ermittlung gemacht. Abgesehen davon, dass ständig neue E-Mails, Faxe und Anrufe bei uns eingehen. Das da auf der Karte sind nur die ersten Opfer, die, bei denen wir fast hundertprozentig sicher sind, dass sie ebenfalls dem Mörder von Gerrit Zuiker und Heleen Soetemann zugeschrieben
Weitere Kostenlose Bücher