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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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dem Moos zwischen den Wurzeln. Der mich in eine Muschel verwandelte, die ich ans Ohr halten und in der ich mich selbst hören konnte.«
    Sie schloss einen Moment die Augen. »Ach, wenn Sie mich nur verstehen könnten! Ich wusste nicht mehr, was ich tat, was ich wollte, was ich glauben sollte! Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Auf meinem Herzen lagen Steine, die immer schwerer wurden, und die Frage, wer mein Mann war, mein richtiger Mann , wog von all diesen Steinen am schwersten. Doch plötzlich, von einem Tag auf den nächsten fast, veränderte sich auch Jun. Er wurde verschlossen und abweisend und ging nicht mehr mit mir in das Zedernwäldchen über dem Fluss. Da wusste ich, eine Entscheidung war gefallen, aber es war nicht meine. Doch dass Zheng ihn angerufen hatte und wollte, dass er zu ihm kommt, wusste ich nicht.«
    Es klingt so aufrichtig, überlegte Van Leeuwen verwundert, so aufrichtig und ehrlich. Trotzdem muss eine von beiden Versionen eine Lüge sein. Doch dann fragte er sich, ob es sich überhaupt um eine Lüge handelte. Klang ihre Beichte jetzt nicht genauso glaubwürdig wie zuvor ihre Briefe mit der gegenteiligen Behauptung, sogar glaubwürdiger? Konnte es nicht sein, dass sie vorher gelogen hatte und jetzt die Wahrheit sagte?
    Er dachte an die anderen Briefe, die er in Sims Koffer gefunden hatte, die Briefe des Mannes mit dem Namen Sandro und das Polaroid, das dabeigelegen hatte. Wenn er mit ihr darüber hätte sprechen können, was hätte sie gesagt? Und wäre es die Wahrheit gewesen, oder hätte sie versucht zu lügen? Aber was hätte er lieber hören wollen, die Wahrheit oder eine barmherzige Lüge? Was hätte er eher geglaubt?
    Er sah den Chinesen an und begriff, dass diese Fragen gar keine Rolle spielten. Es ging um etwas anderes: Als Zheng Wu ganz allein geglaubt hatte, seine Frau betrüge ihn, war ihm die Schande schon unerträglich vorgekommen; doch nun, da sie vor Gericht behauptete, ihm tatsächlich untreu geworden zu sein, gab es für seine Scham kein Wort mehr. Nichts konnte sie beschreiben, selbst wenn Ailing log, um ihm zu helfen.
    Sie half ihm nicht. Sie zerstörte ihn.
    Der Commissaris ließ seinen Blick zu Brigadier Tambur wandern, dann zu dem Richter und schließlich zu Piryns undManhijmer. Keiner schien das zu sehen, was er sah. Keiner hörte, was er hörte. Während er Ailings Erzählung lauschte, hatte er das Gefühl, das Schicksal bei der Arbeit zu erleben: Zeuge zu werden, wie es die Löcher und Risse in ihrem Wesen benutzte, um einen Weg in ihr Leben zu suchen; erst in ihr Leben und dann in das von Zheng und Jun Wu.
    »Zheng, mein Mann, hatte seinen Cousin angerufen«, beendete Ailing ihre Aussage, »um ihn so weit wie möglich von mir fortzulocken. Er sagte, er hätte Arbeit für ihn, er könnte reich werden in Amsterdam. Aber Jun wollte keine Reichtümer, er wollte nur mich. Deswegen fasste er einen schrecklichen Plan. Er trat die lange Reise nach Amsterdam an, um Zheng zu töten. Er dachte, wenn Zheng nicht mehr lebte, könnte niemand mehr etwas dagegen sagen, dass er und ich ganz offen ein Paar würden. Er sagte niemand, was er vorhatte, aber als ich erfuhr, was hier geschehen war, wusste ich es. Ich fand es in der Erinnerung, in den kleinen Andeutungen, denen ich keine Beachtung geschenkt hatte, als er noch bei mir gewesen war. Auf einmal wusste ich genau, was er geplant hatte und warum der Plan fehlgeschlagen war: Zheng war klüger als er und schneller. Er war schneller in allem – er hat mich vor Jun geliebt, er ist vor Jun nach Europa gegangen, und er hat Jun getötet, bevor der ihn töten konnte.« Eine Träne rann ihr über die Wange. »Ich wünschte, er hätte mich getötet.«
    Der Commissaris sprang auf und rief: »Das ist doch nicht wahr! Das ist eine einzige Erfindung! Zheng Wu hat den Mord gestanden, einen kaltblütigen, heimtückischen, von langer Hand geplanten Mord. Wir haben seine schriftliche Aussage, unterschrieben und bis heute unwiderrufen, und es gibt keinerlei Beweise oder andere Zeugenaussagen, die Ailing Wus Version bestätigen könnten …«
    Der Richter beugte sich dicht an das Mikrofon. »Setzen Sie sich, bitte, Mijnheer van Leeuwen! Davon findet sich nichts in der Anklageschrift, Mijnheer Piryns!«
    »Ich höre das selbst zum ersten Mal!«, rief Piryns. Er drehte sich zu dem Chinesen um. »Mijnheer Wu, wussten Sie von dieser angeblichen Absicht Ihres Cousins, Sie zu töten?!«
    Zheng Wu regte sich nicht. Er sah niemanden an und schwieg.
    Oskar

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