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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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bald konnte auch ich meine Augen nicht mehr von ihm wenden. Er war so fröhlich, so jung, so schön, so nah, und mein Mann war so weit weg. Immer wenn ich Jun ansah, krampfte sich mir das Herz zusammen, als würde eine Handin meine Brust greifen und sacht darüberstreichen, aber das durfte nicht sein, denn es war Juns Hand. Und Zhengs Mutter war den ganzen Tag zu Hause, und die ganze Nacht schlief sie im Zimmer neben meinem, nur durch eine dünne Wand aus Pappe von mir getrennt. Ich fing an, mich zu fragen, ob ich einen Fehler gemacht hatte. Hätte ich nicht darauf bestehen müssen, mit meinem Mann zu gehen? Oder wenn das nicht möglich war, hätte ich nicht verlangen müssen, dass er bei mir blieb, den Sperling der Zufriedenheit in der Hand nahm und auf die Taube seines Glücks jenseits des Meeres verzichtete? Diese Fragen quälten mich Tag für Tag – bis zu einem Nachmittag, als ich mit Jun einen Spaziergang in den Zedernwald über dem Dorf unternahm …«
    Sie hob den Kopf und sah den Richter an, und die Dolmetscherin tat es ihr nach. »Sie müssen wissen, Herr Richter, das ist sehr schwer – es ist sehr schwer für mich, Ihnen das alles zu sagen. Ich spreche zu Ihnen von meiner Schande, das ist sehr schwer. Ich wollte für jemand da sein, für einen Mann sorgen, Kinder haben. Als ich klein war, hatte mir mein Vater einmal erzählt, dass jeder Mensch nur die eine Hälfte eines Körpers ist, die vor langer, langer Zeit von ihrer anderen Hälfte getrennt wurde, und dass wir dazu bestimmt sind herumzuirren, bis wir diese andere Hälfte wiedergefunden haben. Immer hatte ich geglaubt, mein Mann Zheng sei diese andere Hälfte, aber auf einmal – dort im Zedernwald über dem Fluss – war mir, als hätte ich mich die ganze Zeit getäuscht und in Wirklichkeit wäre Jun die Hälfte, die mich vollständig machte. Es war, als berührten sich zwei Engel in einer Welt, die in diesem Augenblick erst entstand.«
    Zheng Wu rührte sich nicht mehr. Ganz offenbar hatte seine Seele nicht nur die Beine verloren, sondern jetzt auch noch sich selbst. Er hatte die Augen geschlossen, sein ganzes Gesicht war wie eine starre, leblose Maske.
    Er muss doch wissen, dass sie lügt , dachte Van Leeuwen. Er hat ihre Briefe gelesen, er hat ihr in die Augen gesehen. Sie lügt doch nur, um ihm zu helfen, um zu erklären, welchen Qualen er ausgesetzt war, bis er sich nicht mehr anders zu helfen wusste als durch den Mord anseinem Cousin. Er muss wissen, dass es sich um eine Strategie der Verteidigung handelt.
    »Ich sah an den Stämmen der Zedern hinauf«, fuhr Ailing mit der Stimme der Dolmetscherin fort, »der Wind spielte mit ihren Ästen und lehrte die Blätter, im Schwarm zu fliegen. Ich sah die ganze Zeit hinauf, und mir wurde ein wenig schwindlig, denn die Wipfel der Bäume wiegten sich hin und her, und darüber flogen die Wolken schnell unter der Sonne dahin. Die Welt war unbegreiflich, und fast die ganze Zeit verstand ich mein Leben nicht mehr. Aber als ich da lag, war alles ganz einfach, alle meine Gefühle waren einfach und schön, weil ich mit Jun da lag. Ja, über den Zedern konnte ich den Himmel sehen, und ich wusste, er war jetzt meine Heimat. Jun war nicht sehr klug, doch er kannte die Wahrheiten, die Zheng nie erkannt hatte. Zheng, mein guter Mann, kennt viele tausend Tatsachen, aber nicht eine einzige Wahrheit.«
    Der Richter räusperte sich. »Mevrouw Wu«, unterbrach er sie, »wenn das alles so war, warum haben Sie ihm denn dann die Briefe geschrieben, die dem Gericht vorliegen? Warum haben Sie nicht geschwiegen und gewartet?«
    Ailing nickte bedächtig, als hätte sie sich diese Frage seither auch immer und immer wieder gestellt. »Wegen ihr«, stieß sie hervor, »wegen seiner Mutter! Sie müssen wissen, das chinesische Schriftzeichen für Zwietracht sind zwei Frauen unter einem Dach. In den Briefen, die ich meinem Mann schrieb, log ich. Mit jedem ihrer bösen Blicke schaute sie mir tief in die Seele, und wenn ich Zheng schrieb, schaute sie mir über die Schulter. Ich wollte sie täuschen und ihn auch. Ich wollte immer mit Jun zusammen sein, aber das konnte ich nur heimlich, und immer öfter musste ich dabei an meinen guten Mann Zheng denken und daran, was ich ihm antat. Ich spürte, wie er von jenseits des Ozeans an mir zog, und ich war neugierig auf sein Leben dort, aber gleichzeitig wusste ich, dass ich niemals aus China fortwollte, wo meine Wurzeln lagen. Ich wollte auch nicht fort von Jun, der nach Zedern roch und nach

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