Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
Manhijmer sprang ebenfalls auf. »Es handelt sich ganz offenbar um einen klaren Fall von Notwehr! Ich fordere das Gericht auf, die Klage abzuweisen und das Verfahren einzustellen!«
    »Wussten Sie davon, Mijnheer Manhijmer?«, wandte sich der Richter ihm zu, die Lippen noch immer bedrohlich dicht am Mikrofon. »Wussten Sie von dieser Aussage?! Haben Sie Mevrouw Wu geraten, das zu sagen?!«
    »Ich habe ihr geraten, die Wahrheit zu sagen, sonst nichts!« Manhijmer sah den Commissaris an. »Und ich habe ihr erklärt, dass es meiner Ansicht nach mildernde Umstände gibt.«
    »Wenn Mijnheer Wu wirklich wusste, dass sein Cousin gekommen war, um ihn zu töten, warum hat er das nicht in seiner ersten Aussage erwähnt?«, fragte der Staatsanwalt erbost.
    »Es hatte seinen Grund, nicht reden zu wollen«, antwortete der Verteidiger. »Mijnheer Wu wollte die Ehre seiner Familie schützen, die Ehre seiner Frau. Aber als Commissaris van Leeuwen ihn mit fragwürdigen Methoden zu einer Aussage gezwungen hat, wusste er sich nicht anders zu helfen, als das zu sagen, was der mächtige holländische Polizist hören wollte, um den Fall schnell abschließen zu können.«
    »Er hat freiwillig gestanden!«, widersprach der Commissaris. »Er hat uns selbst zu der Leiche gerufen und sofort zu Protokoll gegeben, dass er seinen Cousin ermordet hat.«
    »Aber er hat nicht gesagt, warum, oder?« entgegnete der Verteidiger, nun ebenfalls wieder ruhiger. »Erscheint es dem Gericht nicht merkwürdig, dass ein so hoher Polizeioffizier, der eigentlich seinen Platz eher am Schreibtisch hat, innerhalb kürzester Zeit persönlich zwei Leichen findet und in beiden Fälle auch selbst die Untersuchung leitet, obwohl gegen ihn gerade eine interne Ermittlung wegen eines möglichen Amtsvergehens durchgeführt wird? Ein Polizeioffizier wohlgemerkt, der nachts in der Centraal Station schläft und …«
    »Mäßigen Sie sich – und zwar alle, sofort!«, fiel der Richter ihm scharf ins Wort. »Ich bitte alle Anwesenden um Ruhe. MijnheerPiryns, Mijnheer Manhijmer, ich denke, Ihnen ist beiden klar, dass wir es jetzt mit einer völlig neuen Ausgangssituation zu tun haben, die von den mir vorliegenden Ermittlungsergebnissen erheblich abweicht! Bevor das Gericht daher über Art, Umfang und Zeitpunkt der Anklageerhebung entscheidet, muss es sich zu einer eingehenden Beratung zurückziehen. Im Moment kann ich nur so viel sagen«, er hielt inne und schien einen Moment nach den richtigen Worten zu suchen, »es gibt Verfahren und Fälle, in denen mehr verhandelt wird als die Schuld eines einzigen Menschen, und hier haben wir es offenbar mit einer solchen Situation zu tun. Es sind Fälle, in denen es, so scheint es mir, um die Idee des Menschen selbst geht, um die conditio humana , die gelegentlich Anlass zur nackten Verzweiflung bietet: an der Welt, am Menschen und am Leben selbst. Abyssus abyssum vocat – der Abgrund ruft den Abgrund! Ich wünschte, wir müssten diesen Ruf nicht hören, aber ich höre ihn, und Sie hören ihn auch. Und ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht, wir alle sind hier, um ihn zum Schweigen zu bringen, ein bisschen wenigstens, für kurze Zeit nur vielleicht, aber als Trotzdem! Mit dem einzigen Mittel, das wir ihm entgegensetzen können: dem Recht, das wir mit dem Urteil dieses Gerichts und im Namen des Volkes wiederherstellen müssen. Bis dahin verfüge ich …«
    Der Commissaris spürte, wie das Handy in der Brusttasche seiner Uniformjacke vibrierte, weil er eine SMS erhielt. Er holte es heraus und klappte es auf, um die Nachricht zu überfliegen. Sie war sehr kurz. Sie lautete:
    Bruno, wenn du nicht heute noch mit Dr. Menardi sprichst, bist du ab morgen vom Dienst suspendiert, Jaap J.

30
    Doktor Feline Menardi bewohnte in einem alten, spitzgiebeligen Patrizierhaus am Amsteldijk das oberste Stockwerk mit Aussicht auf den Fluss und die Magere Brug. Es war ein sehr gut erhaltenes,fünfstöckiges Gebäude, verziert mit weißen Fensterrahmen, filigranen Türmchen und kleinen Balkonen. Eine steile Treppe führte aus dem von Schmiedeeisen eingezäunten Vorgarten zu der dunkelrot lackierten Eingangstür. Auf dem Giebeldach thronte eine Messingkugel, die einer herrisch wirkenden Möwe als Ausguck diente. Das erste schwache Licht der umgebauten Gaslaternen längs des Kais malte verschwommene Heiligenscheine aus Gelb und Rosa in die feuchte Luft.
    Der Commissaris sah Doktor Menardi schon aus dem Haus treten, als er noch mitten auf der Brücke war. Eine

Weitere Kostenlose Bücher