TotenEngel
Art Stöhnen löste sich aus seiner Kehle. Seine Hände krampften sich um die Armstützen, als wollte er sich im Stuhl hochstemmen. Ehe er jedoch etwas sagen konnte, wurde am Kopfende des kleinen Saals eine zweite Tür geöffnet, und der Richter trat ein, ein Laptop unter dem rechten Arm. Schnell stieg er die wenigen Stufen zu dem Richtertisch aus dunklem Holz hinauf. Dort legte er den tragbaren Rechner auf die Tischplatte und tippte das Mikrofon mit dem Zeigefingernagel an, um zu sehen, ob es eingeschaltet war. Ein trockenes Tock-Tock-Tock erfüllte den Raum. Der Richter nickte zufrieden. Er setzte sich und knipste eine schmucklose Leselampe an, die daraufhin zusammen mit einem Kronleuchter an der Decke für gerade so viel Licht sorgte,dass man noch von Helligkeit sprechen konnte. »Sind alle da?«, fragte er.
Er beugte sich vor und beäugte die kleine Versammlung über den Rand seiner goldgerahmten Bifokalgläser. Im Widerschein der Leselampe wirkte sein Gesicht dunkelrot, und ein großer Teil davon hing über den Hals hinunter, gezogen von einem wuchtigen Kinn und einer schweren, feuchten Unterlippe. Auf dem kahlen Schädel zeichneten Knochen und Adern unter der Haut das Basrelief einer glänzenden Kraterlandschaft, die an den Mond erinnerte, aufgrund der Färbung aber wohl eher dem Mars ähnelte. »Mijnheer Piryns, Sie machen den Anfang!«
Der Staatsanwalt saß inzwischen an seinem Tisch, genauso wie Oskar Manhijmer, der Advocaat, an dem seinen. Der Commissaris, Brigadier Tambur, die Dolmetscherin und Ailing hatten auf Stühlen in der ersten Reihe Platz genommen. Ailing sah nicht zu ihrem Mann hinüber. Sie hielt den Kopf gesenkt, den Blick auf ihre im Schoß gefalteten Hände gerichtet.
Ohne aufzustehen, begann Piryns, dem Gericht die Umstände des auf niederländischem Boden begangenen Mordes an dem chinesischen Staatsbürger Jun Wu durch seinen in Amsterdam wohnhaften Cousin Zheng zu schildern, ausführlich, genau und ohne dramatisches Pathos. Der Commissaris hörte aufmerksam zu. An der Darstellung des Staatsanwaltes gab es nicht das Geringste auszusetzen, und doch verspürte Van Leeuwen jetzt, da er den Fall zum ersten Mal mit den Worten eines anderen dargestellt hörte, ein vertrautes Unbehagen. Es war ein Unbehagen, das ihn jedes Mal beschlich, wenn er einem Gerichtsverfahren beiwohnte.
Bis zu dem Moment, in dem der Staatsanwalt die Gründe für eine Anklageerhebung vortrug, war alles klar und eindeutig; sämtliche Beweise lagen an ihrem Platz und ergaben ein deutliches Bild. Aber dann fing die Verhandlung an, und auf einmal war jedes Wort dazu angetan, das Bild infrage zu stellen. Erst langsam, dann immer schneller begann es, andere Formen anzunehmen. Die Farben veränderten sich, die Konturen wurden unscharf. Was die ganze Zeit im Vordergrund gestanden hatten, rückte unversehens in denHintergrund; eindeutige Tatsachen hatten plötzlich zwei oder noch mehr Seiten; Zeugen, die seit ihrer ersten Befragung verlässlich gewesen waren, widersprachen sich im Verhör des Verteidigers, konnten sich nur noch ungenau oder gar nicht mehr erinnern. Gutachter mussten Unwägbarkeiten zugeben, die sie vorher ausgeschlossen hatten, und ein Beweis war – im neuen Licht betrachtet – gar kein Beweis mehr, sondern eine Annahme, Vermutung oder Spekulation. Am Ende schien das Bild das genaue Gegenteil von dem zu zeigen, was es vorher dargestellt hatte. Aus einem Tatsachenbericht, einer nüchternen mathematischen Gleichung war ein Theaterstück geworden, in dem jeder eine andere Rolle spielte, begleitet von unsichtbaren Violinen oder donnernden Paukenschlägen. Tränen verzerrten die Sicht, und wenn sie getrocknet waren, hatte nicht die Wahrheit gewonnen, sondern Shakespeare: Das Leben war zur Bühne geworden.
»So viel wissen wir bis jetzt«, beendete Staatsanwalt Piryns seine Ausführungen, »denn das hat unsere Polizei ermittelt, und das hat auch der Beschuldigte gestanden. Es handelt sich um eine Tat, die zutiefst missbilligt werden muss und für die Mijnheer Wu eine angemessene Strafe verdient. Es ist also unerlässlich, dass im Namen des Volkes Anklage gegen ihn erhoben wird. Aber was ist wirklich in China geschehen, während der Beschuldigte hier langsam, aber sicher unter dem Druck von Scham und Schande den Verstand zu verlieren drohte? War das, was ihn zu dem Mord an seinem Cousin trieb, nur Einbildung, oder spürte er eine tatsächliche Gefahr, die seiner jungen Ehe drohte? Auf diese Frage kann uns nur ein
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