Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
Vom Netzwerk:
Mensch Antwort geben, nämlich seine hier anwesende Frau. Deswegen ruft die Staatsanwaltschaft jetzt Mevrouw Ailing Wu in den Zeugenstand.«
    Er gab der Dolmetscherin ein Zeichen, damit sie der jungen Chinesin übersetzte, was er gesagt hatte. Ailing stand auf. Ihre Hände hingen schlaff herab. In dem zwitschernd schrillen Tonfall, der für den Commissaris noch immer wie halb gesungen klang, brach eine Kaskade schneller Laute aus ihr hervor, bis der Richter abrupt die Hand hob.
    »Ich glaube, Sie können sitzen bleiben, Mevrouw Wu, und es ist nicht nötig, dass Sie Ihre Stimme heben.«
    Ailing wartete, bis die Dolmetscherin übersetzt hatte, dann nickte sie und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken, wo sie sofort weitersprach. »Ich weiß, mein Mann hat ein schreckliches Verbrechen begangen in Ihrem Land«, erklärte sie und hielt inne, bis die Dolmetscherin ihre Worte wiedergegeben hatte. »Es ist auch ein schreckliches Verbrechen in dem Land, aus dem ich komme. Aber dieses Verbrechen war nur die Folge eines anderen Verbrechens, an dem er keine Schuld trug.«
    »Was für ein Verbrechen war das?«, fragte Procureur Piryns.
    »Ich, seine Frau, bin ihm untreu geworden.«
    Der Commissaris sah überrascht zu der Dolmetscherin hinüber, denn er dachte, sie hätte sich bei der Übersetzung geirrt. Aber ein weiterer Blick auf Zheng Wu zeigte ihm, dass es keinen Irrtum geben konnte: Der Chinese war blass, seine heftig blinzelnden Augen erinnerten plötzlich an die von Klaas van der Meer im Zeugenstand: als wären sie zornige Vögel, als wollten sie aus ihren Höhlen flattern und sich schreiend auf seine Frau stürzen.
    »Sie haben ihn zu Hause mit seinem Cousin Jun Wu betrogen, wollen Sie das sagen?«, vergewisserte sich Procureur Piryns bestürzt. »Während Ihr Mann hier in Amsterdam war?«
    Ailing nickte mit niedergeschlagenen Lidern. Ein Hauch von echtem Rot zeigte sich unter dem Rouge auf ihren Wangen.
    »Antworten Sie bitte laut mit Ja oder Nein«, forderte der Richter sie auf.
    »Ja.« Ihre Stimme war leise, aber fest. Warum sagt sie das? , überlegte der Commissaris. Warum lügt sie? Aber noch während er das dachte, wusste er, dass es sich um einen verzweifelten Versuch handelte, ihrem Mann zu helfen, mildernde Umstände zu schaffen, wo es keine gab.
    »Können Sie uns erzählen, was genau sich in Zheng Wus Abwesenheit zugetragen hat?«, fragte der Staatsanwalt.
    Ailing berichtete, wie ihr Mann aufgebrochen war, um auf der anderen Seite des Meeres in Europa sein Glück zu machen, und wieer versprochen hatte, sie bald nachkommen zu lassen. Sie berichtete, wie sie darauf gewartet hatte, dass er sein Versprechen einlöste und sie zu sich holte; wie sie auf seinen Brief wartete, den einen, in dem er schrieb: Ich kann nicht mehr leben ohne dich. Komm, Ailing, endlich, es ist so weit! Steig sofort ins Flugzeug . Sie berichtete, dass viele Briefe kamen und einige Anrufe, aber in keinem Brief schrieb er: Komm, nimm das nächste Schiff , sondern da stand immer nur: Es ist viel schwerer, als ich dachte. Das Geld liegt nicht auf der Straße . Und: Du fehlst mir so sehr, mein Schmetterling, mein Seepferdchen. Und eines Tages schrieb er : Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen, du musst Geduld haben.
    Sie erzählte, wie sie Geduld gehabt hatte, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, die ganze Zeit in derselben winzigen Wohnung mit Zhengs ganzer Familie, unter demselben Dach mit ihrer Schwiegermutter. »Ich wurde sehr traurig«, berichtete sie in ihrem leidvollen Singsang und sah genauso zart und zerbrechlich aus, wie ihre Geschichte es verlangte. »Bald war es so weit, dass ich Zheng nicht mehr glaubte, und da wollte ich sterben. Nur einer bemerkte, wie es um mich stand, und das war Zhengs Cousin Jun. Er redete mit mir. Er versuchte, mich zum Lachen zu bringen. Er sorgte dafür, dass ich nicht aufhörte zu essen, obwohl ich nicht den geringsten Hunger mehr hatte. Er ging mit mir spazieren, und er faltete kleine Tiere aus Papier für mich, komische Wesen, sodass ich lachen musste.«
    Zheng Wu entfuhren immer wieder leise knurrende Laute. Seine Lippen zitterten, als wollten sie sich jeden Moment öffnen und rufen: Sei still! Kein Wort mehr!
    Doch Ailing redete weiter und weiter: »Wenn Jun morgens zur Arbeit ging, fehlte er mit bereits, kaum dass er über die Schwelle getreten war, und noch bevor er abends heimkam, freute ich mich wieder auf ihn. Ich freute mich auf sein Lachen, seine Blicke, die nicht von mir wichen, und

Weitere Kostenlose Bücher