TotenEngel
Radartypen, die nichts als kreisende Schirme im Kopf haben, um bloß jedem Hindernis rechtzeitig ausweichen zu können und niemandem zu nahe zu kommen!«
»Sie können mich Feline nennen. Bitte, setzen Sie sich doch! Mein Hals fängt an, mir wehzutun.« Ihr Gesicht verschwand langsam in der zunehmenden Dunkelheit, nur das Weiß der Augen und der Zähne blieb. Er zögerte einen Moment, dann setzte er sich neben sie, ohne sie anzuschauen. Der Widerschein der bunten Glühbirnen auf der Amstel war wie ein Feuerwerk, das unter Wasser abbrannte. Etwas weiter von der Magere Brug entfernt blieb vom Fluss nur ein schwarzes Rauschen, das sich klatschend an den Kaimauern rieb, und noch weiter entfernt spielten die Wellen mit den Sternen und Splittern des Mondes Hasch mich.
»Ich arbeite jetzt seit fünf Jahren mit Polizisten«, sagte Feline Menardi, »und die Arbeit ist anders als mit allen anderen Patienten. Ich sage Ihnen bestimmt nichts Neues, wenn ich feststelle, dass Polizisten, und zwar manchmal gerade die jungen, die noch keine dreißig sind, fürchterlich zynisch und verbittert sein können. Das liegt natürlich an ihrem Job, an dem, was sie Tag für Tag erleben. Sie begegnen Mördern, Vergewaltigern, Dieben, Huren, Schlägern,Dealern, Drogensüchtigen, den schlimmsten Menschen. Aber es liegt nicht daran , dass sie so traurig oder zynisch sind, sondern daran, dass sie in normalen Menschen das Schlimmste sehen – das Böse. Von morgens bis abends kommen sie damit in Berührung, wohin sie auch schauen, vierundzwanzig Stunden am Tag, und irgendwann sagen sie sich: Menschen sind Abschaum, nicht besser als Tiere. Dann dauert es nicht mehr lange, bis sie sagen: Ich bin ein Mensch, also bin ich auch der letzte Dreck . Sie sehen die Menschen an, die sie lieben, mit denen sie befreundet sind, und sie sagen sich: Was kann jemand, der Abschaum liebt, selbst anderes sein als Abschaum? Also fangen Sie an, nach Anzeichen dafür zu suchen, bei ihren Freunden, ihren Frauen, ihren Kindern, sie zu beobachten, auf die Probe zu stellen, zu verdächtigen. Sie arbeiten nicht mehr in ihrem Job. Ihr Job arbeitet in ihnen. Er frisst sie von innen auf.«
»Wie die Würmer König Herodes in der Bibel«, kommentierte der Commissaris. »Aber das sind Einzelfälle. Es gibt sie, bloß sind es weniger, als Sie vielleicht denken, wenn Sie die Fälle in Ihrer Praxis hochrechnen.«
»Haben Sie nie an den Menschen gezweifelt?«
»Ich habe nie aufgehört, an ihnen zu zweifeln, aber nicht, weil ich Polizist bin. Höchstens, weil ich selbst ein Mensch bin. Trotzdem halte ich sie nicht für Abschaum, und ich halte mich selbst nicht für den letzten Dreck.«
»Nicht einmal gelegentlich, als Ihre Frau noch lebte?«
Die Frage traf den Commissaris unvorbereitet wie ein harter Schlag gegen die Brust. »Das müssen Sie mir erklären!«
Sie antwortete: »Es gibt bei Turgenjew, dem russischen Schriftsteller, eine Stelle in einem Roman oder einer Erzählung – der Titel fällt mir gerade nicht ein –, wo ein Mann, ein Bischof, am Bett seiner toten Frau kniet und zu Gott betet. Er betet, dass Gott ihn nicht für ihren Tod dankbar lassen sein möge. Ihre Frau war doch auch schwer krank. Ging es Ihnen nicht manchmal so, als sie noch lebte oder kurz danach, dass Sie dagegen ankämpfen mussten, sich ihren Tod zu wünschen?«
Van Leeuwen hatte ein Gefühl, als wiche ihm das Blut erst ausdem Kopf und dann aus dem Herzen. »Wenn ich jetzt Ja sage, kann ich dann sofort gehen?«
Sie wandte den Kopf und sah ihn von der Seite an, aber er blickte weiter nach vorn, und jetzt war es sein Hals, der schmerzte.
»Ich wollte damit sagen, es würde mich nicht stören, wenn Sie so gedacht hätten«, fuhr sie fort. »Wenn Sie für einen Moment oder auch für länger Erleichterung verspürt hätten. Denn wenn es so wäre, könnten Sie sich, ohne sich zu schämen, an dieses Gefühl erinnern und es als eine Möglichkeit betrachten, sich auch das Jetzt leichter zu machen.«
»Schon wieder jemand, der will, dass ich mir alles leichter mache«, gab er schroff zurück. »Wie leicht soll ich mir denn Ihrer Meinung nach den Verlust meiner Frau machen?«
»Das kommt darauf an, wie schwer Sie sich ihn zurzeit machen«, erwiderte sie gelassen. »Trauer ist auch bloß eine Form von Müßiggang, Mijnheer! Es ist okay, im Bahnhof zu schlafen, wenn es Ihnen hilft. Aber was darin zum Ausdruck kommt, ist, dass Sie ja schon versuchen, Erleichterung zu finden. Sie sollten vielleicht in
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