TotenEngel
Schiffe noch Computer oder Privatkanzleien besitzen, aber oft mehr Scham, Herz und Anstand als alle Anwälte, Bankiers und Börsenmakler zusammen.
Ich freute mich, weil die Stadt keine Geheimnisse vor mir hat. Egal, wie glitzernd und farbig die Clubs und Geschäfte sind, wie hoch die Quadratmeterpreise steigen und wie tief die Kriminalitätsrate sinkt, wie viele kleine Krämerläden in Nobelboutiquen mit Designerkleidung und Silberrasseln für das Großstadtbaby von heute und Bitte-Klingeln -Schildern neben der Eingangstür umgewandelt werden – es ist immer noch meine Stadt, ich kenne sie. Jetzt, da meine Frau nicht mehr lebt, ist sie das Einzige, was ich so lange kenne und immer noch liebe. Selbst wenn sie sich ständig verändert, wenn viele alte Handwerksbetriebe weichen müssen, damit diese ganzen von jenseits des Ozeans ferngesteuerten Fast Food Diner, Wok-a-gogo-Schnellküchen und Coffee-to-go-Filialen in den besten Gegenden landen können, und selbst wenn chromblitzende Wellness- und Hair- und Beauty-Salons ganze Viertelentkernen, sie ist ganz anders als das, was ich in den letzten Stunden da draußen in Overijssel gehört hatte; ich kann sie verstehen.
Ich saß in unserem Wagen und sah die Lichter auftauchen und freute mich, obwohl ich wusste, dass ich eigentlich keinen Grund hatte, nicht den geringsten. Ich dachte ja auch an den Mörder, dessen erstes bekanntes Opfer Conrad Mueller gewesen war, und ich dachte, vielleicht ist er eins dieser Lichter. Es war ein komischer Gedanke, weil ich auch dachte: Vielleicht bin ich das andere, das zu ihm gehört. Er hatte denselben Weg genommen: Er hat den Dörfern den Rücken gekehrt und sich durch das halbe Land gemordet, und jetzt ist er hier und tötet weiter. Ich kann ihn fassen, ich denke, dass ich das kann. Aber selbst, wenn es mir gelingt, wenn ich es schaffe, den Fall zu lösen, alle Fragen zu beantworten und die Motive des Täters ans Licht zu bringen, bleibt das größte Geheimnis trotzdem ungeklärt, nämlich: Was nützen die Antworten, wenn sich trotzdem nichts ändert? Wenn die Menschen so sind, wenn die Welt so ist, dass alle diese Dinge geschehen konnten und schon morgen dieselben oder noch schlimmere passieren können? Wenn das, was wir herausfinden, immer etwas ist, mit dem wir hinterher leben müssen, egal, wie unerträglich und grauenhaft es auch sein mag? Das waren so die Gedanken, bei denen mir klar wurde, dass ich eigentlich keinen Grund hatte, mich zu freuen. Aber wissen Sie, was? Ich hab’s trotzdem getan. Ich habe mich gefreut, wieder da zu sein.«
»Was war das für eine Ahnung, die Sie nicht weiterverfolgen wollten?«, fragte Doktor Menardi.
Van Leeuwen antwortete nicht. Sie saßen in seinem Büro, in dem es langsam dunkel wurde, und er zögerte den Moment hinaus, in dem er das Licht einschalten musste. Feline Menardis Gesicht schimmerte matt, ein bisschen wie Kupfer, ihre Zähne waren weiß und die Augen hell und lebhaft. Sie trug eine burgunderrote Nappalederjacke mit hohem, eng abschließendem Kragen und einem überbreiten Reißverschluss, dazu eine beige Leinenhose und teure Wildleder-Sneakers. Er fragte sich, wie alt sie sein mochte; Anfang vierzig vielleicht, dachte er. Ein gutes Alter, in dem manbereits die feineren Gewürze zu schätzen wusste. Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen, die Hände lagen im Schoß, und jetzt fragte sie:
»Haben Sie Doktor van der Meer schon auf die Bilder und die damaligen Ereignisse in Overijssel angesprochen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß noch nicht genug.«
»Genug wofür?«
»Um zu merken, wann er lügt.«
»Glauben Sie denn, dass die toten Kinder irgendetwas mit den Morden zu tun haben, die Sie untersuchen?«
Van Leeuwen nickte. »Der Täter tötet immer an zwei Tagen im Jahr, am sechsundzwanzigsten September und am dritten Oktober. Der Tag, an dem Conrad Mueller das Baby auf Sara Scheffers Balkon fand, war ein dritter Oktober.«
»Und Sie verdächtigen Van der Meer?«
Wieder blieb Van Leeuwen stumm. Sie hakte nicht nach, respektierte sein Schweigen. Stattdessen sagte sie: »Kindstötungen waren bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein sehr verbreitet, wussten Sie das? Die Zuchthäuser waren voll mit Frauen, die aus Not ihre Neugeborenen getötet haben. Ledige Mütter wurden geächtet, an den Pranger gestellt, mit Füßen getreten, sie waren gesellschaftlich derart isoliert, dass sie ihre Kinder lieber getötet haben.«
Sie saßen in Van Leeuwens Büro und warteten
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