TotenEngel
beugte sich hinaus. Sie hatte schulterlange graue Haare, in denen ein Schildpattkamm steckte. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Cardigan mit Reißverschluss, und in einer Hand hielt sie eine Taschenlampe, mit der sie Gallo ins Gesicht leuchtete. »Wer sind Sie?«, fragte sie mit einer Stimme, die jünger war als sie selbst und die über die Entfernung und sogar gegen den Wind trug.
Gallo hielt seinen Ausweis ins Licht. »Ich bin Hoofdinspecteur Ton Gallo von der Kriminalpolizei in Amsterdam, Mevrouw. Wir sind hier wegen …«
»Ich weiß, weswegen Sie hier sind.«
»Sind Sie Janneke Geers?«
»Ja, die bin ich!« Die Frau knipste die Taschenlampe aus. »Und Sie möchten mit mir über Sara Scheffer sprechen.«
»Können Sie mir sagen, woran Sie sich noch erinnern?«, erkundigte sich Gallo und trat näher an das Fenster heran.
»An alles erinnere ich mich! Was Sie hören wollen, ist zwar schon sehr lange her, über vierzig Jahre, aber ich war damals schließlich kein Kind mehr, immerhin habe ich die Feuerwehr gerufen, und danach habe ich alles weiter verfolgt, in der Zeitung, im Radio und im Fernsehen. Und Interviews habe ich gegeben, zahllose Interviews, und Fotografen waren hier, von allen großen Blättern!«
»Dann kannten Sie Sara Scheffer also gut …«
»Niemand kannte Sara Scheffer gut«, erklärte die Frau, »sonst wär das alles ja nicht passiert, oder? Dann hätte ja jemand gefragt, wo sind denn deine Kinder, Sara?, zum Beispiel. Du hast doch so viele Kinder gekriegt, Sara. Wo sind die denn alle? Bei dir sind sie nicht. Auf der Straße sieht man sie nicht. Sind die bei ihren Vätern oder in den Blumentöpfen auf deinem Balkon? «
»Woran erinnern Sie sich denn am deutlichsten?«
»An die Hunde.« Sie sah über Gallos Kopf hinweg in die Nacht.»Die Leichenhunde, mit denen sie die ganze Gegend rund um unsere Häuser abgesucht haben.«
Die Spürhunde kamen nach den Feuerwehrmännern und den Ambulanzfahrzeugen und nach den Polizeibeamten, die Sara Scheffer mit Handschellen und einer Decke über dem Kopf aus ihrem Haus zum Einsatzwagen geführt hatten. Sie kamen, nachdem auch die sieben kleinen Leichen unter weißen Tüchern auf tablettähnlichen Tragen weggebracht worden waren. Von überall her hatte es Schaulustige auf Fahrrädern und Motorrollern ins Dorf gezogen. Ein paar waren zu Fuß gekommen, einige in Autos. Sie drängten sich hinter den Absperrungen, und manche hatten Butterbrote mitgebracht und Kaffee in Thermoskannen. Sogar Kinder waren dabei. Die Schaulustigen hatten nur Augen für die Hunde, die an den Leinen ihrer Führer zerrten und mit den Schnauzen dicht am Boden herumschnüffelten, und wenn die Hunde anschlugen, zuckten alle zusammen, sogar die Polizisten, und die Paare unter den Zuschauern fassten sich bei den Händen, ohne die gebannten Blicke von den Hunden zu lösen. Haben sie schon wieder eins gefunden?
Die Hunde suchten den ganzen Abend und bis tief in die Nacht, und mehrmals schlugen sie an, fanden aber kein Skelett mehr, kein totes Kind.
Was ist das für eine Frau, murmelten die Zuschauer, die Mutter, diese Rabenmutter? Wer ist das, kennt jemand sie? Warum hat sie ihre Kinder getötet? Man kann doch verhüten, man kann doch vor der Geburt abtreiben. Warum hat sie gewartet bis nach der Entbindung, bis sie richtig lebten? Man kann sie doch abgeben, in einem Findelhaus, oder kamen sie schon tot zur Welt? Und wo waren die Väter?
»Religiös war sie, ist jeden Sonntag zur Kirche gegangen und hat immer freundlich gegrüßt«, erzählte Mevrouw Geers, jetzt mit den Unterarmen auf die Fensterbank gestützt und offenbar unempfindlich gegen die Kälte. »Aber sie hat getrunken! Doch egal, wie betrunken sie war, sie ist nie ausfallend geworden. Ihre Männer? Von denen sah und hörte man nichts, höchstens mal ein Auto, das vor dem Haus stand, oder ein Motorrad. Keine Ahnung, wie viele es im Lauf der Jahre waren oder wie sie hießen. Da müssenSie in den Polizeiakten nachschauen, sie ist ja lange verhört worden. Und vor Gericht musste sie dann alles noch mal wiederholen. Ich weiß nicht, ob sie noch andere Kinder hatte, davor. Kinder, die sie am Leben ließ. Ich erinnere mich nur an einen der Männer, den sie im Fernsehen interviewt haben, weil Sara behauptet hatte, er wäre der Vater der letzten drei gewesen. Also, der letzten drei toten, nicht von dem, das überlebt hatte. Der sagte, er hätte überhaupt nichts davon bemerkt, dass sie schwanger gewesen war; sie hätte
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