TotenEngel
darauf, dass die Besprechung begann, die der Hoofdcommissaris für den frühen Abend angesetzt hatte. Seit der Rückkehr aus Overijssel waren anderthalb Tage vergangen, in denen Van Leeuwen gespürt hatte, dass sich die Atmosphäre veränderte, auf den Gängen des Präsidiums, auf den Straßen der Stadt; die Luft schien dichter zu werden, wie vor einem Gewitter.
Der Commissaris schüttelte den Kopf. »Aber acht Kinder in fünfzehn Jahren, die Leichen in Blumentöpfen auf dem Balkon aufgereiht wie eine Bastion. Dieses Bild werde ich nicht los, genauso wie es dort niemand loswurde. Und das Kind, das derFeuerwehrmann gerettet hat – der Junge, der überlebt hat … Ich frage mich, was er empfunden hat, als er alt genug war, um zu erfahren, was seine Mutter seinen Geschwistern angetan hatte – was sie ihm angetan hatte ! Nur noch ein paar Sekunden, und er wäre in der Blumenerde erstickt. Was macht ein solches Erlebnis aus einem Menschen?«
Doktor Menardi berührte langsam ihr linkes Ohrläppchen, eine zarte, seltsam verlegene Geste und wie in Zeitlupe ausgeführt, das einzige Anzeichen für ihre innere Betroffenheit. Diesmal schwieg sie, als käme ihr die naheliegende Antwort zu beliebig vor. Er sah zum Fenster hinüber, vor dem die frühe Dunkelheit aus den Straßen aufstieg wie Rauch.
»Ich glaube, dass in dem Dorf bei Steenwijk sieben Kinder gestorben sind und eins als Mörder wiedergeboren wurde«, sagte er.
»Ist das der Punkt, an dem Sie aufgehört haben weiterzudenken?«, wollte Feline Menardi wissen.
»Ich habe es versucht«, antwortete der Commissaris. »Aber die Gedanken haben sich von selbst weitergedacht.« Er stand auf und fuhr in das Sakko seines Leinenanzugs, das er über die Stuhllehne gehängt hatte. »Was mich nicht loslässt, ist der Umstand, dass sie ungefähr beide gleich alt sind: Conrad Muellers Sohn Roelof und das überlebende Kind von Sara Scheffer.«
»Sie fragen sich, ob die beiden sich wohl je begegnet sind?«
Van Leeuwen nickte. »Ich weiß nicht, wer Sie zur Polizei geholt hat«, meinte er, »aber eine bessere Wahl hätte er nicht treffen können.«
»Danke«, ein schnelles Lächeln, »ich hoffe, Sie ändern Ihre Meinung nicht, wenn Sie hören, dass der Hoofdcommissaris mich auch der Sonderkommission zugeteilt hat, die er gleich vorstellen wird.«
»Was für eine Sonderkommission?«, fragte Van Leeuwen überrascht.
Auf dem Gang streckte eine agentin in Uniform ihren Kopf aus einem der verglasten Büros und fragte: »Mijnheer van Leeuwen, hat man Ihnen eigentlich ausgerichtet, dass während IhrerAbwesenheit mehrmals jemand von der Presse für Sie angerufen hat? Von einer Zeitung?«
Der Commissaris blieb stehen. »Nein, wer?«
»Ein Mann aus der Redaktion einer Kolumne, Samariter oder so ähnlich. Ich habe ihm erklärt, Sie wären dienstlich auf Reisen und er sollte es nach Ihrer Rückkehr noch mal versuchen.«
»Hat er um Rückruf gebeten?«
»Davon hat er nichts gesagt.«
»Wo ich war, hast du ihm nicht erzählt?«
»Nein, das wusste ich ja gar nicht. Ich habe nur …« Die Polizistin runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob ich nicht einen Fehler gemacht habe. Ich habe ihn nämlich gefragt, ob er wegen des Wagens anruft. Sie haben doch Ihren Alfa inseriert. Erst hat der Mann gesagt, nein, aber dann hat er noch einmal angerufen und wollte genau wissen, um was für einen Wagen es sich handelt und wo er steht. Wo er ihn sich ansehen kann. Ich hab’s ihm gesagt, ich meine, Sie wollen ihn doch gern verkaufen …«
»Schon in Ordnung, Linda. Hat der Anrufer einen Namen hinterlassen?«
»Den habe ich nicht notiert. Aber wenn Sie wollen, kann ich da anrufen …«
»Nein, schon gut, danke.« Der Commissaris drehte sich zu Doktor Menardi um, die ihr Handy aus der Tasche geholt hatte und mit einem suchenden Daumen über das Display fuhr. Sie hielt das Gerät in Gürtelhöhe vor sich wie jemand, der eigentlich eine Brille tragen sollte.
»Sie verkaufen Ihren Wagen?«, fragte sie.
»Ja, Ihretwegen.«
»Meinetwegen?« Sie sah auf und schob das Handy in die Seitentasche zurück.
»Bei unserer ersten Begegnung haben Sie mir geraten, mich nach und nach von Dingen zu trennen, die mich zu sehr an meine Frau erinnern«, erklärte er, während sie weitergingen. »Kurz bevor sie krank wurde, hatte sie einen Alfa Romeo gekauft, den ich von ihr übernommen habe, aber eigentlich brauche ich keinen Wagen.Ich dachte nur, ich müsste ihn behalten. Vor ein paar Tagen habe ich ihn inseriert.
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