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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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verändern würden.
    »Er lag auf der Straße, nicht in den Armen einer Frau«, sagte er unwirsch. Plötzlich spürte er wieder das Gewicht in seiner Brust, ein fast schmerzhaftes Ziehen, das neu in seinem eigenen Leben war. Etwas weniger schroff fragte er: »Können Sie mir etwas über Gerrit erzählen? Was war er für ein Mensch? Hatte er Probleme? Hat er mit Ihnen darüber gesprochen, ob ihn etwas belastet hat?«
    »Alles!«, rief sie. »Alles hat ihn belastet.« Sie fing an, mit verschränkten Armen auf und ab zu gehen. »Jetzt verstehe ich – jetzt verstehe ich Sie! Sie suchen nach etwas, nicht? Nach einem Grund! Einem Grund dafür, warum er nicht mehr lebt! Alles war der Grund – seine Arbeit, die Schüler, seine Kollegen, ich und er, ja, er selbst!«
    Sie sprach immer schneller, während sie in dem großen Raum auf und ab ging. Der Commissaris folgte ihr mit den Augen und entdeckte noch einen der glimmenden Punkte. Er bückte sich, und von Nahem konnte er sehen, dass es sich um winzige Glassplitter handelte, Glas und Quecksilber: die Scherben eines Spiegels, der vielleicht an der Wand gehangen hatte, wo jetzt die leere Stelledarauf wartete nachzudunkeln. Also kein Gemälde, sondern ein Spiegel, zersprungen als Vorzeichen kommenden Unheils.
    Margriet sagte: »Die Schüler waren sein Ein und Alles, er hatte überhaupt nichts anderes im Kopf: von morgens bis abends die Schule, die Kinder, ihre Probleme, ihr Elternhaus, ihre Zukunft, nichts anderes. Das hat er den ganzen Tag mit sich herumgeschleppt. Damit ist er am Morgen aus dem Haus gegangen und am Abend zurückgekommen, und nicht mal in der Nacht hat er es abgestellt, dieses Gewicht. Es waren ja nicht nur die Hefte mit den Arbeiten oder die Vorbereitungen auf den Unterricht oder die Beurteilungen, die er schreiben musste – es waren auch die Spannungen, die Gewalt, das Mobbing, der soziale Druck, die Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit. Er hat sich um sie gekümmert, um jeden Einzelnen, aber sie wollten das gar nicht, sie wollten ihn nicht, für sie war das Schwäche, er war schwach. Und das haben sie ihn spüren lassen, und dann saß er hier an seinem Schreibtisch und wusste nicht weiter. Manchmal hat er stundenlang am Fenster gestanden und hinausgeschaut, weil er Angst hatte – er dachte, sie beobachten ihn, sie verfolgen ihn, vor allem seit sie diesen Film ins Internet gestellt haben, diesen widerlichen Film …!«
    Ihre Worte überstürzten sich. Mit schnellen kleinen Schritten durchmaß sie den Raum, blieb dann abrupt vor einer gelben Rose stehen und riss eins der Knospenblätter aus. Sie starrte die Rose an und riss erst ein Blatt aus, danach noch eins und dann das dritte.
    »Welchen Film?«, hakte der Commissaris nach.
    Sie schien ihn nicht zu hören, wirkte ganz in Anspruch genommen von der Aufgabe, der Rosenknospe die Blätter auszureißen. »Und dann das Lied«, stieß sie hervor. »Stundenlang verkroch er sich in unserer Dachkammer und hörte das Lied, immer und immer wieder, und ich – ich saß hier und hatte ein Gefühl, als drehte sich eine eiserne Faust in meinem Bauch.«
    »Was war das für ein Lied?«
    » Help me , heißt es, glaube ich – help me if you can, I’m feeling down –, aber ich konnte ihm nicht mehr helfen … niemand konnteihm mehr helfen … Es gibt Menschen, denen einfach nicht mehr zu helfen ist, nicht?«
    »Davon ist mir nichts bekannt«, erwiderte der Commissaris. Er spürte, wie das elektrische Spannungsfeld hinter seinem Zwerchfell zu flackern begann, als sich allmählich ein Bild von dem Toten zusammensetzte – der tote junge Mann und seine Frau und wie sie hier miteinander gelebt hatten. Er merkte, dass er eine Weggabelung erreicht hatte, und änderte vorübergehend die Richtung. »Sind Sie auch Lehrerin, Mevrouw Zuiker?«
    »Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr so genau, was ich bin. Zurzeit … also, ich arbeite auf dem Blumenmarkt an der Singel, aber eigentlich wollte ich … ich wollte aufhören zu arbeiten und Kinder haben, ja, Kinder?« Sie beendete den Satz mit einem fragenden Unterton, als wäre sie nicht ganz sicher, ob er wusste, was Kinder waren. »Im Grunde«, sagte sie, »im Grunde ist es so am besten. Es ist so am besten für ihn. Und für die Kinder auch.«
    »Welche Kinder?«, fragte der Commissaris.
    »Unsere Kinder«, antwortete sie. »Die ungeborenen … Mit einem Vater wie Gerrit, der den Boden unter den Füßen verliert, jeden Tag ein bisschen mehr – help me get

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