TotenEngel
hielt einen Fuß über das hauchdünne Eis. »Nicht einmal Ihre Mutter?«
»Meine Mutter ist schon lange tot.«
»Bei wem sind Sie dann aufgewachsen?« Der Fuß berührte das Eis, probierte aus, ob es trug.
Jacobszoon gab einen missmutig klingenden Laut von sich; das Eis knackte, es trug nicht. »Ich habe Sie nicht angerufen, um mit Ihnen über meine Kindheit zu sprechen. Es ist schon spät. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, müssen wir das Gespräch ein andermal fortsetzen.«
Der Commissaris dachte nicht daran, den Fuß zurückzuziehen. »Wollen Sie gar nicht wissen, wo ich war, als Sie versucht haben, mich im Präsidium zu erreichen?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ich war in Overijssel. In der Nähe von Steenwijk. Dort, wo Ihre Mutter Sie und Ihre Geschwister zur Welt gebracht hat. Wo Sie gerettet worden sind.«
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Dann sagte Jacobszoon: »Wenn man einmal sein eigenes Grab war und dann wieder hinaussteigt, wenn man die Erde abgeschüttelt hat und sich im Tageslicht umschaut, dann sind sich das Gute und das Schlechte so ähnlich, dass man sie kaum noch unterscheiden kann. Es sind nur noch Begriffe. Aber es sind Begriffe für die anderen, und man findet überhaupt nichts mehr dabei, einen dieser anderen zu töten. Oder sich selbst.« Er schwieg einen Moment, als überlegte er, ob er zu viel gesagt hatte oder zu wenig. »Die Sendezeit ist um. Gute Nacht.«
Van Leeuwen war eingebrochen, versank im kalten Wasser. Aber er dachte nicht daran, kampflos unterzugehen. »Hören Sie mit dem Mumpitz auf!«, brüllte er. »Ich entscheide, wann Ihre Sendezeit um ist, niemand sonst! Sie sind ein Mörder, Sie haben Dutzende von Menschen auf dem Gewissen, und eines Tages wird Gott sie allevor Sie hinkippen aus dem großen Netz, in dem er die Ermordeten auffischt, und die Toten werden vor Ihren Füßen zappeln und Sie anspringen wie blutige Fische. Aber vorher werde ich Ihnen das Handwerk legen, und dann ist Ihre Sendezeit um!«
Er fand, dass es eine schöne Rede war, kurz und prägnant, außerdem leidenschaftlich vorgetragen. Es störte ihn auch nicht im Geringsten, dass Jacobszoon bereits vor dem ersten Satz aufgelegt hatte. Manche Dinge mussten gesagt werden, ob jemand zuhörte oder nicht.
37
Manchmal mitten in der Nacht wusste Brigadier Julika Tambur nicht mehr, was noch wirklich war. In ihrem Kopf lief ein Videorekorder, der alles aufzeichnete, was sie hörte und sah, und nie wieder löschte. Sie brauchte bloß den Play -Knopf zu drücken, und sie konnte es wieder sehen und hören, und oft drückte sie den Knopf nicht einmal und sah es trotzdem. Sie dachte, dass man das Unabwendbare verhindern könnte und dass man Mitschuld hatte, wenn es doch geschah. Sie suchte die Stelle, an der man die Ereignisse aufhalten oder ihnen eine andere Richtung geben konnte.
Ein Videorekorder im Kopf, tausend Bänder im Herzen, mindestens. Sie saß an Muriel Brautigams Bett und sah zu, wie Muriel in ihrer eigenen Lunge ertrank, und dachte: Ich nenne dich lieber Muriel . Sie wollte nicht durcheinanderkommen. Außer Muriel sah sie nämlich noch ihre Mutter, dann ihre Schwester. Sie lagen auch in dem Bett, im Schatten außerhalb des Lichtkreises der kleinen Nachttischlampe.
Ihr Vater saß auf der anderen Seite des Bettes. Sie konnte ihn sehen, obwohl der Hocker da drüben leer war. Fast konnte sie sogar den faden Alkoholdunst riechen, der ihn auch Stunden nach dem Unfall noch umgab; den ranzigen Schweißgeruch der Schuld. Sie konnte ihn leise weinen hören, stockend, keuchend, und sie spürte das Eis in ihrer Brust.
Ein Beatmungsgerät zischte leise, es pumpte Luft in Muriels Lungenflügel, in denen die Flüssigkeit immer höher stieg. Nadeln an dünnen Schläuchen steckten in den abgemagerten Armen und den skelettartigen Händen. Langsam tröpfelte Flüssigkeit durch diese Schläuche, voll mit farbloser Nahrung, die Muriel nicht wollte. Ihre Lider lagen auf den Augen wie tote Haut. Darunter bewegten sich die Augäpfel hin und her, von rechts nach links und zurück; sie suchten einen Ausweg, selbst im Schlaf, und Julika suchte mit ihr.
Außer dem Zischen des Respirators und dem leisen Piepsen des Herzmonitors drangen noch andere Geräusche in das Zimmer: der Wind, der Regenböen durch die Nacht jagte, und das Krachen und Klatschen des Meeres in den Dünen und manchmal das Kreischen des Wetterhahns auf dem Dach. Aber es war seltsam, sie hörte dazu noch die Tonspur von der Videokassette,
Weitere Kostenlose Bücher