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TotenEngel

TotenEngel

Titel: TotenEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Fischer
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sie nicht wollte.
    Muriel hat den Stolz, um ihren Tod zu bitten; sie will in Würde sterben. Wenn du ihr hilfst, wirst du vielleicht ein besserer Mensch. Der Mensch, der du immer sein wolltest. Sie beugte sich tiefer, ganz dicht zu Muriel, als wollte sie für sie atmen – und dann aufhören, wenn sie den Wunsch verspürte.
    Julika hörte ein neues Geräusch, das sie noch nicht kannte. Sie blendete das Zischen und Piepsen und den Regen aus und konzentrierte sich auf den Laut, der eben noch da gewesen war. Nicht im Zimmer, auch nicht vor dem Fenster – auf dem Gang. Sie hielt den Atem an. Seid mal still! Da, jetzt wieder, es klang wie Schritte, gedämpfte Schritte, die näher kamen und vor der Tür innehielten. Ein Pfleger , dachte Julika, eine Schwester oder Doktor Death, der sich vergewissern will, dass alles in Ordnung ist . Sie ging zur Tür, öffnete sie und sah hinaus. Der Gang war leer.
    Das Fenster hinter den zugezogenen Vorhängen ächzte, und ein kalter Luftzug strich durch den Raum. Die Milchglastür am Ende des Korridors fiel zu. Du hörst Gespenster , dachte Julika. Jetzt erst atmete sie aus und schloss die Tür wieder.
    Sie blickte auf ihre Uhr. Es ging auf vier zu. Julika spürte einenDruck auf der Blase. Sie holte ihr Handy heraus und schaute, ob jemand ihr eine SMS geschickt hatte, aber das Display blieb leer, und Bruno schickte sowieso keine. Er hatte sie auch nicht angerufen, und sie fragte sich, was sie sich einredete.
    Was redest du dir eigentlich die ganze Zeit ein, über dich und einen dreißig Jahre älteren Mann, der dich nicht einmal benachrichtigt, nachdem man versucht hat, ihn zu ermorden? Willst du jemanden lieben, der ganz plötzlich getötet werden kann, jeden Tag? Willst du, dass sich das durch dein Leben zieht – deine Mutter, deine Schwester, jeder, an dem dein Herz hängt, kommt ganz plötzlich um, und du bleibst zurück?
    Sie stand auf, verließ Muriels Zimmer und ging durch den dunklen Korridor, folgte den Hinweisschildern zur Toilette. Die Sohlen ihrer Turnschuhe quietschten auf dem Linoleumboden. Niemand begegnete ihr, keine Schwester, kein Arzt. Der Gang lag still im matten Schein der Nachtbeleuchtung. Die Türen der Krankenzimmer waren geschlossen. Im Treppenhaus hinter ihr stieg oder sank ein Fahrstuhl surrend von Etage zu Etage, aber Julika konnte ihn nicht sehen. Türen mit Milchglasscheiben trennten den Gang von den Treppen. Der Regen prasselte gegen das große Fenster am Ende des Korridors. Irgendwo schrie jemand. Es war ein leiser Schrei, der schnell wieder erstarb.
    Julika blieb stehen, um zu lauschen, aber der Schrei wiederholte sich nicht. In dieser dunklen, frühen Morgenstunde schien ihr die dünne Linie zwischen Leben und Tod fast greifbar. Aber nicht so greifbar wie für Muriel, dachte sie; nicht einmal so greifbar wie für Bruno, der einem Mordanschlag entkommen war und sie nicht angerufen hatte. Und der Mörder ist entkommen, dachte sie wieder, und weil man nicht weiß, wer es ist und wo er jetzt ist, bist du hier. Und dann dachte sie: Vielleicht ist er auch hier.
    Der Fahrstuhl in dem Treppenhaus hinter ihr setzte sich wieder in Bewegung. Vielleicht ist er das in dem Fahrstuhl . Sie machte kehrt und ging in Richtung Treppenhaus. Besser, du überraschst ihn, als umgekehrt. Sie tastete nach dem Griff ihrer Dienstpistole und entsicherte sie, ohne sie aus dem Halfter zu ziehen. Sie hatte schon langekeine Angst mehr, diese panische Angst, die sie als Kind gequält hatte, die Angst vor leeren Korridoren, verlassenen Parkhäusern, dunklen Kellern. Sie stieß die Milchglastür auf. Dahinter war es kälter als auf dem Stationsgang, das Meer klang lauter und sehr nah.
    Es war ein Fahrstuhl ohne Sichtfenster in den Türen. Julika stellte sich davor, eine Hand am Pistolengriff unter der Fleece-Jacke, deren Reißverschluss über ihren Handrücken kratzte. In der Luft lag ein Flimmern, und sie spürte, wie das Adrenalin ihren Herzschlag durch ihre Adern trug, schneller als sonst. Als sie hören konnte, dass der Fahrstuhl ganz nah war, drückte sie auf den Rufknopf. Sie sah unzählige Bilder von zahllosen Knöpfen, die sie schon gedrückt hatte, miteinander verschmelzen, ihr Finger, der Knopf und immer etwas, das hinter der Tür neben dem Knopf wartete.
    Ein gedämpfter Klingelton, dann fuhren die Türen auseinander. Der Fahrstuhl war leer. In der breiten Metallleiste mit den Etagenknöpfen sah Julika ihr Spiegelbild: nicht die nur flüchtig gekämmten Haare, auch nicht die

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