TotenEngel
Hier spricht Doktor Jacobszoon«, sagte der Anrufer. »Sie haben eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. Ich bin gerade nach Hause gekommen, und weil ich morgen einen vollen Terminkalender habe, dachte ich, ich probier’s noch schnell bei Ihnen. Ich hoffe, Sie haben noch nicht …«
»Ich habe noch nicht geschlafen«, unterbrach Van Leeuwen ihn. »Wo waren Sie?«
»Wie bitte?«
»Sie haben gesagt, Sie sind gerade nach Hause gekommen. Wo waren Sie?«
»Ich habe einen Krankenbesuch gemacht«, antwortete Jacobszoon überrascht.
»Wo?«
»Außerhalb.«
»Wo außerhalb?«
»In der Nähe von Haarlem.«
»In der Klinik von Doktor van der Meer?«
»Ja.«
»War er da?«
»Wer?«
»Doktor van der Meer.«
»Ja, natürlich.«
»Und wenn ich ihn fragen würde, dann würde er bestätigen, dass Sie bei ihm waren?«
»Das nehme ich an. Warum?«
»Er würde das sogar sagen, wenn Sie statt in der Klinik heute Nacht in einem Parkhaus in Amsterdam gewesen wären, richtig?«
Jacobszoons Stimme veränderte sich, aus Überraschung wurde Befremden. »Was soll ich mitten in der Nacht in einem Parkhaus? Ich habe gar keinen Wagen.«
»Hätten Sie gern einen Wagen?«, fragte Van Leeuwen. »Einen nougatbraunen Alfa Spider, erste Hand, garagengepflegt,achtundneunzigtausend Kilometer auf dem Tacho, alle Inspektionen durchgeführt?«
Jacobszoon schwieg einen Moment, ehe er fragte: »Sind Sie betrunken, Mijnheer?«
»Ein bisschen«, sagte der Commissaris. »Und Sie?«
»Ich kann es mir nicht leisten, betrunken zu sein, wenn ich nach Patienten sehe.«
»Was für Patienten haben denn mitten in der Nacht Bedarf an einem Schmalspur-Samariter?«, fragte Van Leeuwen ruppig. Er konnte hören, wie Jacobszoon der Atem stockte, obwohl auch hier im Arbeitszimmer der Regen gegen das Fenster trommelte und der Wind aus dem geröteten Himmel auf die Dächer herabfuhr. In das Schweigen am anderen Ende der Leitung hinein sagte er: »Ich habe gehört, dass sich das Mitgefühl für die Leiden anderer bei Ärzten und Krankenschwestern nach einigen Jahren in Gefühllosigkeit verwandelt. Können Sie das bestätigen?«
»Nein, das kann ich nicht bestätigen«, antwortete Jacobszoon verärgert. »Und wenn Sie nichts anderes auf der Seele haben, dann …«
»Doch, ich habe etwas anderes auf der Seele«, sagte Van Leeuwen. »Aber im Moment geht es noch um Ihr Alibi. Wer war der Patient, den …«
»Mein Alibi? Wofür brauche ich ein Alibi?«
»Für den Zeitpunkt eines Mordversuchs heute Abend. Also, wer war der Patient, den Sie besucht haben?«
»Eine junge Frau, Muriel Brautigam, die an unheilbarer …«
»Ich kenne Muriel Brautigam. Lebte sie noch, als Sie von ihr weggefahren sind?«, fragte Van Leeuwen.
Diesmal gab es am anderen Ende keine Pause und kein verdutztes Schweigen, nur einen kurzen Laut, der eher Enttäuschung als Empörung verriet. »Gute Nacht, Mijnheer«, sagte Jacobszoon. »Wenn Sie noch Fragen haben sollten, können wir weiterreden, sobald Sie wieder nüchtern …«
»Halt«, unterbrach Van Leeuwen ihn rasch, bevor der Psychologe auflegte, »es tut mir leid, bitte, entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen. Ich bin nur gerade etwasdurcheinander. Könnten Sie vielleicht einen Moment in der Leitung bleiben – ich habe in der Küche Kaffeewasser aufgesetzt, und es fängt gerade an zu kochen.«
Jacobszoon atmete aus, erfreulich schnell besänftigt. Der Commissaris legte den Hörer auf die Schreibtischplatte, schob den Stuhl zurück und verließ mit lauten Schritten das Arbeitszimmer. Er ging in die Küche, wo er das Sakko über eine Stuhllehne geworfen und dann liegen gelassen hatte. Mit der unverletzten Hand fischte er sein Handy aus der Innentasche des Jacketts und tippte mit dem Daumen Gallos Nummer ein. Diesmal meldete Ton sich nicht sofort, sondern es dauerte einige Klingelzeichen lang, bevor eine Verbindung zustande kam. »Hallo?«
»Ton, hier ist noch mal Bruno«, sagte Van Leeuwen leise.
»Ach, hör mal, ich war bei Jacobszoon, aber es hat niemand aufgemacht«, berichtete Gallo mit verschlafener Stimme. »Ich habe ihm …«
»Ich habe ihn gerade in der anderen Leitung«, fiel Van Leeuwen ihm ins Wort. »Angeblich war er zum Zeitpunkt des Überfalls draußen in Van der Meers Klinik, bei Muriel Brautigam. Ruf unseren Mann in der Klinik an, er soll nach ihr sehen und überprüfen, ob mit ihr alles in Ordnung ist.«
»Wir haben noch niemand da draußen«, sagte Gallo. »Ich wusste
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